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Odessa

Episode 01: Roma

Odessa-Fahrende 1995

Von Anfang an reiste ich am liebsten per Zug nach Odessa. Wer die Episode »Roma« anhört, ahnt vielleicht, warum.

Text & Musik: Thorsten Steinhoff, 27. März 2022

Tatam-Tamtam. Der Rhythmus des Zuges von Praha nach Odessa. Ich lauschte ihm einen ganzen Abend und wusste, dass ich ihn auch in der Nacht hören würde. Tatam-tatamm. Länger unterbrochen nur am Bahnhof von Czop, dem slowakisch-ukrainischen Grenzort, an dem der ganze Zug ein anderes, mutmaßlich breiteres, Fahrgestell bekommen würde. Ob wir Fahrgäste während dieser von Ungarisch sprechenden kräftigen Männern durchgeführten Prozedur nach draußen durften, hing von der Tageszeit, der Laune des Zugpersonals und der Freundlichkeit der Grenzposten ab.

Die Uhrzeit des Grenzübertritts war mir so wenig bekannt wie die nächtliche Stimmungslage der Grenzbeamten in Czop. Wir hatten Prag gerade erst verlassen und die Waggonschaffnerin, die dezhurnaja, war älteren Semesters. 1993 hieß das, sie war mit den Sitten sowjetischer Zugkultur vertraut. Wenn wir Passagiere uns einigermaßen gut verhielten und die in der Nacht Zusteigenden ebenso, würde es Tee geben. Der Waggonsamovar war beim Einsteigen zu sehen und schien einsatzbereit zu sein.

Mit mir im Abteil war ein junger Mann mit viel Gepäck, aber mit nicht einmal einer Hand voll russischen Wortschatzes. Er wollte seine Freundin besuchen, die an unserem gemeinsamen Reiseziel Odessa ein Auslandssemester verbrachte. So erzählte er mir, als ich ihn in Regensburg etwas unschlüssig auf dem Bahnsteig stehen sah und spontan zu seinem Reisebegleiter wurde. Auch ich wollte meinen Schwarm besuchen.
So fuhren wir beide mit vollen Koffern und übervollen Herzen nach Odessa. Was mich von meinem chique gekleideten Reisegenossen außer Vokabular und Dresscode unterschied: Ich fuhr das dritte Jahr in Folge dieselbe Strecke. Ich wusste also, dass wir in Prag sofort zu einem bestimmten Büro laufen mussten, um Platzkarten für die nächste Etappe zu bekommen. Die Öffnungszeiten dieses winzigen Reisebüros am Prager Hauptbahnhof und unsere Ankunft in Prag bildeten ein nur schmales Zeitfenster. Ich bereitete meinen Mitreisenden auf einen Sprint mit Reisegepäck vor. In Lemberg, beim nächsten Umstieg, würden wir mehr Zeit haben. Da würde es eher um Verhandlungsgeschick gehen, um keine sündhaft teuren Touristenpreise für Nachtzugkarten zu zahlen.

Der Platzkarten-Wettlauf in Prag hatte geklappt und jetzt waren wir auf dem Weg über Czop nach Lvov. So wurde die westukrainische Stadt von den meisten Fahrgästen unseres Zuges damals genannt. Im Laufe ihrer bewegten Geschichte hatte die mittelalterliche Gründung vier Namen erhalten: Lvuv, Lviv, Lvov und Lemberg. Litauer, Polen, k.u.k.-Österreicher, Russen und Ukrainer hinterließen jeweils eigene Prägungen in der Altstadt. Musste ich jemanden auf der Straße nach dem Weg oder etwas anderem fragen, war ich in den zwei Jahren zuvor mit Russisch am weitesten gekommen. Das lag aber wohl daran, dass es an meiner deutschen Uni keine Ukrainisch-Kurse gab, jedenfalls nicht für Fachfremde wie mich. Ich lernte, dass in der Westukraine, auf deren Gebiet wir umstiegen, im Alltag Ukrainisch gesprochen wurde. Ich sollte es diesmal lernen.
Aber noch nicht sofort. Ich kannte mich ja von zwei vorausgegangenen Reisen her in der Altstadt und rund um den Bahnhof gut aus und musste niemanden nach dem Weg fragen. Es gab noch kein Google Maps oder andere Navis.

Am späten Nachmittag hätten mein Weggefährte, nennen wir ihn Felix, und ich ein Smartphone brauchen können. In der Meinung, er kenne sich aus, überließ ich Felix die Wahl unseres Stadtspazierwegs. Irgendwann fiel mir auf, dass wir in einer Plattenbausiedlung gelandet waren. Ein paar pubertäre Mädchen spielten Fußball und unversehens flog der Ball zu uns rüber. Felix gab ihm einen gekonnten Tritt, er flog zurück und – verwandelte sich in einen Kopfball. „Muśćina!“ – „Mann!“ rief die unfreiwillig Annehmende, mit einer Mischung aus Spott und gespielter Empörung. Diese Vokabel kannte auch Felix. „Obwohl ich sonst wirklich nichts verstehe.“ Aber wie „Mann“ auf Russisch heißt, das hatte seine in Odessa studierende Freundin ihm wohl verraten.

Nicht verraten hatte sie ihm, wie man von einer sowjetischen Plattenbausiedlung aus zum Bahnhof kommt. Als ich ihm die Frage stellte, zuckte Felix mit den Achseln. Die Fußball spielenden Mädchen hätten uns vielleicht geholfen, aber um sie zu fragen, hätten wir zurück gehen müssen. Stattdessen kamen einige Gleise ins Blickfeld. Die Frage war nur noch: Nach links oder nach rechts?
Mein Orientierungssinn sagte mir klar: Nach links. Und Felix war einverstanden.

Die Entscheidung war richtig. Bald sahen wir den Bahnhof vor uns — in einiger Entfernung. Ein Blick auf die Uhr verriet, dass wir uns beeilen mussten, wenn wir den einzigen Zug des Tages nach Odessa noch erwischen wollten. Und der Blick auf die Strecke bis zum Bahnhof machte glasklar, dass wir uns keine Umwege erlauben konnten, etwa über normale Straßen. Das meinte auch Felix und überschritt ein Gleis, um auf den Streifen zwischen zwei Gleisen zu kommen. „Da kommt doch gerade nichts“ meinte er, als ich Befürchtungen anmeldete, von einem Zug überrollt zu werden. Einige Zeit später kam schon ein Zug. Und noch einer. Und noch ein Dritter. Alle auf unterschiedlichen Gleisen, zwischen denen wir notgedrungen hin und her sprangen um möglichst nicht zwischen zwei schnell fahrende Züge zu geraten. Ein Lokomotivführer bedachte uns mit einem Hornsignal und wahrscheinlich einigen saftigen Flüchen. Aber die hörten wir nicht und erreichten glücklich erst den Bahnhof, dann die Gepäckrückgabe und zuletzt den Zug. Wir kamen, sahen und – stiegen ein.

[Musik]

Die dritte Etappe unserer Zugfahrt fuhren wir unabhängig voneinander. In Lemberg hatte sich Felix in die Warteschlange vor dem Schalterfenster einer jungen Fahrkartenverkäuferin angestellt, von der er dachte, sie verstehe Englisch. Er lag richtig mit dieser Vermutung. Ich entschied mich für eine ältere Kollegin, der ich ansah, dass sie mich am Akzent zwar als Ausländer erkennen würde, meine Mühe aber durch einen Inländer-Fahrpreis würdigte.

In meinem Vierer-Schlafabteil war bereits eine Liege belegt. Eine junge Frau war mit ihrem kleinen Kind unterwegs und sie schliefen später dicht aneinander gekuschelt. Ich hatte die untere Liege gegenüber bekommen. Noch bevor jemand einschlief, wurden die zwei übrigen Kunstlederflächen besetzt. Über der Mutter mit Kind bezog ein Mann mittleren Alters sein Kopfkissen, seine Decke und – fing dann ein Gespräch mit mir an. Ich hatte Mühe, ihn zu verstehen, obwohl er mir versicherte, er spreche Russisch.
Als er müde war und sich höflich zum Schlafen verabschiedete, regte sich etwas auf der Liege über mir. Eine junge Frau kam leise nach unten, lächelte mich an und fragte, in klarem Russisch, ob ich Lust hätte, mich noch etwas mit ihr zu unterhalten. Ich bejahte. Und so unterhielt ich mich mit Roma. Einige Stunden lang. „Hat er wirklich Russisch gesprochen?“ fragte ich sie. „Ich habe so wenig verstanden.“ – Roma nickte. „Er hat versucht, Russisch zu sprechen. Aber er ist Westukrainer. Wie ich. Und wir sprechen Ukrainisch. Er hat die Sprachen so gemischt, dass sogar ich Probleme hatte, ihn zu verstehen.“

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