Am Sandstrand wird Vergänglichkeit vorgeführt – rund um die Uhr und zu jeder Jahreszeit. Aber wirklich vergänglich ist hoffentlich nur die menschengemachte Gewalt. Die Freiheit der Wellen spült sie irgendwann weg.
„Nein, das ist kein Hebräisch. Das ist Jiddisch. Und damit solltest du dich eigentlich beschäftigen!“ – So hörte ich es 1991 von einer schon damals weitgereisten Volkslied-Freundin. Wohin sie auch reiste, stets schien sie ihr Skizzen-Buch dabei zu haben. Und da hinein die Texte von Liedern zu schreiben, die Ortsansässige ihr vorsangen.
Hier, am Strand von Bugas, südwestlich von Odessa gelegen, waren das ukrainische Volkslieder. Einige Studentinnen, die unsere Austauschgruppe auf der Tour nach Belgorod Dnestrovskij (heute Bilhorod Dnistrovskij) begleiteten, sangen mit Begeisterung diese Weisen vor und halfen auch gleich bei der Korrektur der Textniederschrift. Noten schrieb unsere international ausgerichtete Bartók-Schülerin nicht nieder. Sie spielte die Lieder jedenfalls diesmal gleich auf der Gitarre mit und machte sich vielleicht später Akkord-Notizen. Womöglich war es bei einer solchen Nachbearbeitung, als ich zufällig einen Blick auf bereits beschriebene Seiten des werdenden Liederbuches werfen konnte und auf hebräische Buchstaben stieß.
Was ich damals noch nicht wusste: Jiddisch, die klassische Sprache der osteuropäisch-jüdischen Hochliteratur mit starken mittelhochdeutschen Wurzeln, wird in hebräischen Buchstaben geschrieben. Und Odessa war ein Zentrum der jiddischen Klassik. Mendele Mojcher Sforim, der Großvater der jiddischen Literatur, wie auch der weltbekannte Scholem Aléjchem, Schöpfer der Vorlage zum Musical Anatévka – diese beiden und einige Autoren mehr, lebten und wirkten in Odessa. Als Schriftsteller und auch politisch. In Odessa war das eine schon immer gerne mit dem anderen verbunden. Wahrscheinlich einer der Gründe, aus denen ich mich auf den ersten Blick in die Perle am Schwarzen Meer – zhemtschúzhina u morja – verliebte.
Als Nora, die natürlich nur hier im Podcast so heißt, mich dazu aufforderte, mich dem jüdischen Odessa zu widmen, wusste ich noch nichts von all dem, was in den nächsten fünf Jahren mein Leben vollkommen umkrempeln sollte. Vorerst blieb es bei einer einprägsam schönen Strandszene. Am Schwarzen Meer, unweit des Liman.
[Musik]
Am Morgen dieses September-Tages 1991 waren wir in einen frischgebacken post-sowjetischen Reisebus gestiegen. Unsere Gruppe, das war ein gutes Dutzend Studierende aus Regensburg. Als die von uns betreute zweite Gruppe aus Odessa im Sommer für einen Monat nach Regensburg gekommen war, besuchten uns noch Sowjet-Bürger. Als wir zum Gegenbesuch kamen, war die Sowjetunion zwei Wochen vorher untergegangen. Der Alltag mindestens im Odessaer Stadtgebiet war friedlich geblieben, Odessiten sind wandlungsfreudig und anpassungsfähig. Aber Details wie der sowjetische Tourenbus samt seinem Fahrer, der mutmaßlich zum ersten Mal Westdeutsche ins jetzige ukrainisch-moldawische Grenzgebiet chauffierte – das war ein Abenteuer für alle Beteiligten. Anfang der Neunziger war von Internet und mobilen Telefonen noch nicht zu träumen. Bei Fahrten wie der unseren, unsicher in jeder Hinsicht, waren andere Medien einschlägig. Bei Fragen wie: Wie war die Lage auf der Krim, die wir ein paar Tage später besuchen wollten? So chaotisch wie in Kiew, wohin wir eine Zweitage-Reise unternommen hatten? Und nachdem wir ungefähr zwei Wochen vorher Deutschland verlassen hatten – was gab es zu Hause Interessantes?
Internationale Zeitungen waren in Bugas erwartungsgemäß nicht zu bekommen, erst recht nicht am Strand. In Odessa selbst: Fehlanzeige. Das Büchergeschäft „Druzhba“ – Freundschaft hatte in Moskau geschaffene Landkarten zu bieten, kleine auf Papier und sehr große auf Wachstuch. Und natürlich Bücher. Vorzugsweise von Autoren aus sozialistischen Bruderländern, von alten Freunden eben. Aber Zeitungen wie die SZ? Njet u nas. Konetschno. Haben wir natürlich nicht.
Schto slyschno? – Was hört man? – fragt man auf Russisch, wenn man sich beim Gegenüber nach dem Befinden erkundigen will. Oder auch, wenn es um Neuigkeiten geht. Schto slyschno interpretierten wir neu am Strand von Bugas. Ein uns begleitender Universitäts-Dozent, der später ein Wunschfach im Zweitstudium in Regensburg absolvieren sollte, zeigte uns, wie Odessiten sich über das Weltgeschehen informierten. Per Weltempfänger.
Heute könnten solche Geräte neue Bedeutung erlangen. Datenkabel lassen sich kappen oder anzapfen. Lange, mittlere, kurze und ultrakurze Funkwellen lassen sich schon stören – aber nicht überall, und schon gar nicht auf einen Schlag. Auch nicht von Kriegsschiffen auf dem Schwarzen Meer. – Piratensender ahoi! Stschastlivo, rebjata!