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1995

Episode 31: Eis von der Straße

Wenn ich vom Privōz-Bauernmarkt stadteinwärts ging, konnte ich im Schnee ein Vanilleeis schlecken. Mhhh, beinahe ein Gedicht wert. Auf jeden Fall eine wiederkehrende Erinnerung.

Kommt aus Hamburg, wie auch Produkte aus anderen osteuropäischen Ländern.

Das Jahr 2024 erfreute Berlin kurz nach Jahresbeginn mit Blitzeis. Und füllte seine Rettungswagen. So manche Zunge hätte am Asphalt festfrieren können, wenn man besonders unglücklich fiel. Dreißig Jahre früher hatte es in Odessa mit Bodenfrost und Eis-Schlecken eine andere Bewandtnis. Das war ein Dreamteam!

„Ich will jetzt sofort ans Meer!“ rief meine Mitbewohnerin zu mitternächtlicher Stunde aus. Gut, die Wohnung unserer Gastfamilie lag nur einen Olympia-Steinwurf vom Strand entfernt. Aber um Mitternacht bei Schneefall über schadhafte Wege ans Schwarze Meer wandern – WTF?

Die Antwort auf die damals noch ohne modische Akronyme gestellte Frage fiel denkbar knapp und schlagkräftig aus: „Weil ich sehen will, wie es aussieht, wenn der erste weiße Schnee ins nachtschwarze Schwarze Meer fällt.“ – Wie gesagt, was sollte man dagegen ernsthaft einwenden? Also zogen wir alle unsere Schuhe an und gingen am Nachtkiosk vorbei zum Strand. Und guckten zu, wie – tatsächlich nicht ohne Reiz – vom Himmel fallende filigrane Eis-Kristalle in schäumender Gischt oder schwarzem Wellenwasser vergingen. Stille bei uns.

Ähnlich wie beim Genuss von Speise-Eis auf der winterlichen Deribásovskaja. Oder auf der diese berühmte Straße kreuzenden Jekaterininskaja.
Grammatisches Fun-Fact: Das russische und das ukrainische Wort für „Straße“ sind beide wie das deutsche Pendant weiblich. Und bei Speise-Eis ist es genauso, nur sächlich. Ukrainisch heißt es „morōzyvo“, Russisch, wie damals in Odessa meist gesprochen „morózhennoje“. Beide Wörter sind sächlich.

Ganz ehrlich gesagt: Das ukrainische Wort gefällt mir viel besser. Kurz, knackig, einfach. Ein hartes „i“ und gut is’. „Morozhennoje“ ist zwar auch nicht schwierig, aber fast so lang wie „dostoprimetschateljnóst’“ – das Schreckwort für Touristen, die sich durch das Lesen von Reiseführern vorbereiten. Es bedeutet nämlich „Sehenswürdigkeit“ und ist wie diese grammatisch weiblich. Frag mal auf Russisch, und zwar als blutiger Anfänger: Wo ist hier die wichtigste Sehenswürdigkeit der Stadt? Na? Die Auflösung kommt zum Schluss dieser Podcast-Episode.

„Ein Eis, bitte“ sagt sich dagegen ganz einfach. Auch ohne zungenlösende Stopka, also 100 Gramm Feuerwasser. Einfach „Odnō morōzhennoje, pozhálujsta“. Wortwörtlich Eines – Eis – bitte. Um die Sorte musste man sich in den 90ern keine Gedanken machen. Es gab nur zwei davon: Softeis, das von mir auch Salmonellen-Eis genannt wurde. Und das Staatliche Eis. So nannte es meine Odessaer Freundin Lena. Gosudārstvennoje morōzhennoje. Hach, ist Russisch nicht eine schön einfache Sprache? Nach so viel Sprachkurs erstmals etwas coole Musik.

[ Musik: Schnee und Meer ]

Meine liebe Freundin Lena nannte das nach Vanille schmeckende Eis „staatlich“, weil es von einer ehemals staatlichen sowjetischen Fabrik hergestellt wurde. So wie die „staatlichen“ Pelméni oder das bei Lena zu Hause bevorzugte Teegebäck. Lenas Vater war ein überzeugter Sozialist und in eben dieser Weise ein Mensch, den ich nur hoch ehren kann. Im ging es nicht um Pfründe oder Privilegien, beides hatte er nicht. Sondern um das Wohl seiner Mitbürger.
Bei allen Mängeln des Systems, das war hier im Hause klar, boten staatliche Firmen ein gewisses Maß an Qualität. Das galt insbesondere für Lebensmittel. Anno 1995 waren die Maßstäbe schon im freien Fall. Aber das Staatliche Eis hatte seine Qualitätssicherung eingebaut. Es war immer frisch. Grund: Es konnte nur im Winter verkauft werden. Es gab in der Stadt keine Kühlanlagen, weder in Läden, noch auf der Straße. Doch, da schon. Für Softeis. Schleimschleim, hallo Pantoffeltierchen, was machst du denn hier?

Wenn ich vom Privōz-Bauernmarkt stadteinwärts ging, kam ich über eine Allee, die damals noch nach der im Großen Vaterländischen Krieg bewährten Sowjetarmee benannt war. Da gab es das von Lena so getaufte Eis an mehreren Stellen.
Hier auf der Ulitsa Sovjetskoj Armii im Schnee ein Vanilleeis schlecken. Mhhh, beinahe ein Gedicht wert. Auf jeden Fall eine wiederkehrende Erinnerung. Und wisst ihr was? In Berlin gibt es dieses Eis noch heute! Ich sah es gestern noch in Baume, in Baumschulenweg. Zugeben nicht auf der Straße, sondern bei…

Zeit für den Abschluss unseres kleinen Sprachkurses: Wie fragt man auf Russisch nach der wichtigsten Sehenswürdigkeit der Stadt? Hier die Lösung:

Gdé nachōditsja samaja vazhnaja dostoprimetschateljnost‘ goroda?

In Baume käme als Antwort wahrscheinlich ein herzliches: „Hä?“ Von russischsprachigen Nachbarn, von denen ich hier einige kenne, vielleicht aber auch: Oj, äto morōzhennoje Plombir. Prodajotsja u Lidl.
Kleiner Tip für Sprachlernende: Langenscheidt hilft hier nicht wirklich weiter. Aber ein Blick auf die Transkriptions-Seite dieser Episode und auch das Foto ebenda. Gut Schlecken! Nee, Schlecker isses nich‘.

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