Weihnachten in Sack und Asche. Das Fest der Familie als Bußübung? – Nein, nicht wirklich.
Mein Lehrer Nummer 1, der mich wohl im Denken und Betrachten am stärksten geprägt hat, war Ferdinand Ulrich (1931 – 2020). Er wies oft und gerne darauf hin: Weihnachten ist in erster Linie ein dramatisches Fest. Mit Märtyrern, finsteren Persönlichkeiten und – mittendrin einem Kind, dessen Zukunft alles andere als rosig ist. Nach bedrückendem Start in einem Stall direkt ins ziemlich kurze und sehr hart endende Erdenleben.
Natürlich habe ich Weihnachten als Kind ganz anders wahrgenommen. Meine Eltern haben mich ja anders erzogen. So, dass ich mich auf Weihnachten freute. Nicht so sehr auf Geschenke-Berge, sondern auf besonders intensive familiäre Nähe.
Es gab ein Weihnachtsfest, bei dem es diese Nähe nicht gab. Ich verbrachte es in Odessa. Meine Mitbewohnerinnen waren wie die Gastfamilie bekennende Atheisten. Und einer der beiden jungen Frauen aus Deutschland war deutlich anzumerken, dass sie ein Weihnachten ohne irgendeinen Beigeschmack von Familienfest sehr genießen würde. Über alle Maßen genießen würde. Jedenfalls meinte sie das.
Hier, unter Atheisten, die mit Weihnachten überhaupt nichts zu tun haben wollten, feierte ich ein Weihnachtsfest, das ich nie vergessen werde. So schön war es.
Die katholische Kirchengemeinde „Marien Entschlafen“ war damals eine Gemeinde mit drei harmonierenden Flügeln. Sonntags gab es drei Messen: Die erste für polnischsprachige Gläubige, die zweite anderthalb Stunden später in russischer Sprache und dann folgte regelmäßig noch ein Gottesdienst für Ukrainisch-Unierte.
Ich gehörte zur russischsprachigen Gemeinde, die mit Verlaub die bunteste war. Hier feierten Studierende aus ehemaligen „Sozialistischen Bruderländern“. Vornehmlich aus Afrika und Asien. Es waren aber auch nicht sozialistisch geprägte Briten, Franzosen, Italiener, Spanier und ich als Deutscher dabei.
Die Christmette, die um Mitternacht gefeiert werden sollte, stand nicht im Aushang und wurde auch nicht bei den Vermeldungen bekanntgegeben. P. Ignacy, ein Salesianer, wollte diesen besonderen Gottesdienst ursprünglich nur mit seinen beiden Mitbrüdern feiern. Im letzten Moment überlegte er es sich anders und sagte uns ausländischen Studierenden Bescheid, dass die Kirche zu später Stunde das Licht im Inneren leuchten lasse und dass die Tür dann offen sei.
Ich machte mich früh auf den Fußweg. In Odessa war am 24. Dezember ein ganz normaler Arbeitstag, die Busse fuhren normal. Zu dieser Normalität gehörte aber ein äußerst dünner Fahrt-Rhythmus.
Als ich an der entscheidenden Kreuzung stand, wo die Bushaltestelle war, hielt neben mir ein Routen-Taxi. Der Fahrer machte die Beifahrertür auf und frage mich, ob ich mitfahren wollte. Wollte ich nicht. Erstens hatte ich kein Geld dabei, zweitens liebte ich den meditativen Gang zur Kirche und drittens galt es als riskant, abends in ein vermeintliches Routen-Taxi einzusteigen. Also ging ich nach einem höflichen Nein weiter und kam bald auf den Vorplatz der Kirche. Ich sehe sie im Moment vor meinem geistigen Auge. Durch die kleinen Fenster schien Licht brannte. Ich fasste an die Tür und sie ließ sich öffnen.
[ Musik: Ein Sternsinger-Lied, das ich am Dreikönigstag in einer Berliner Straßenbahn auffing.
Gespielt an der schönen Klais-Orgel in der Kapelle des St. Joseph-Krankenhauses Berlin – Weißensee ]
Vorne im Chor hatten sich außer den drei Salesianern einige junge Leute eingefunden. Eine Pfeifen-Orgel gab es in der Pfarrkirche nicht, ebenso wenig Liederbücher. Die Liturgie war auf das Wesentliche reduziert und es gab viel bewusst gehaltene Stille.
Der liturgische Friedensgruß dieser Feier hat sich mir so tief eingeprägt, dass ich ihn jederzeit ganz plastisch und in Farbe in Erinnerung rufen kann. – Wir standen im gestreckten Halbkreis und jede/r sollte die beiden Steh-Nachbarn mit dem Friedensgruß ansprechen. In der eigenen Muttersprache. Links neben mir stand ein chinesischer Student. Sein Friedensgruß war eine Verneigung. Die erwiderte ich, sprach dabei aber zusätzlich die deutschen Worte: Friede sei mit dir.
Nach der Christmette zogen wir alle wieder einzeln in die Nacht hinaus. Ab der Kirchhofspforte trennten sich die Wege, Odessa war schon damals groß und die meisten hatten es nicht so nah wie ich.
Zu Hause erwarteten mich – zu meiner Überraschung – meine beiden Studienfreundinnen. Sie hatte sich in mein Zimmer gesetzt, obwohl es keineswegs das größte war. Aber nur bei mir gab es Kerzen und so etwas wie einen Adventkranz. Ich meine mich zu erinnern, dass die Kerzen brannten. Auf jeden Fall waren die Augen der beiden erklärten Atheistinnen feucht. Sehr feucht.
Weihnachten ist ein Fest des „Noch nicht”. So sagte es Ferdinand Ulrich. – Der Retter der Welt ist geboren, aber noch nicht als Retter in Erscheinung getreten. Noch nicht. Aber Er ist schon da, Gott mit uns, Immanuel. Das meint Weihnachten.
Euch allen eine gesegnete Zeit – in Erwartung. Singt für Ihn, wo Ihr Ihn wahrnehmt. Und wer singt, hört dann manchmal mehr als nur sich selbst.