Was sagt meinem Publikum der Begriff „Miliz“? Mir sagte das Wort 91 nichts.
In Osteuropa haben es Bösewichter nur selten mit Polizei-Beamten zu tun. Das Wort „Polizei“ kommt aus dem Alt-Griechischen. „Polis“ bedeutet da Gemeinwesen, Stadt. Polizist:innen sind demnach Menschen, die im Gemeinwesen ein bestimmtes Maß an Ordnung gewährleisten, notfalls auch militant, mit der Dienstwaffe.
Die Begriffsfamilie um das Wort „Miliz“ verdankt sich nicht dem ruhmreichen Ost-Rom alias Konstantinopel, das in der russischen Orthodoxie als Maßstab für vieles gilt. Nö, die ollen Römer aus Italien nannten den Soldaten einer Gruppe von Tausend (Lateinisch „mille“): „miles“. Da auch Ordnungshüter:innen bewaffnet sind, lässt sich leicht nachvollziehen, warum sie in manchen Staaten Milizionäre heißen.
In der frisch nach-sowjetischen Ukraine genossen Milizionäre einen katastrophalen Ruf. In den 90ern hörte ich in Odessa oft den Rat: Wenn du in Not bist, ruf nicht nach der Miliz! Ruf einen Offizier! Der hat einen Ehrenkodex.
Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine wissen wir: Dieser Kodex ist Geschichte. Als Pazifist, der ich damals schon war, musste ich anerkennen, dass sich Armee-Angehörige tatsächlich durch die Bank anständig verhielten. Und Milizionäre oft wie die Axt im Walde. Haudrauf. – Aber einmal… war es ganz anders.
Wir befinden uns auf dem Privōz, dem ehemaligen Kolchosen-Markt von Odessa. Das Wetter ist sonnig, im Außenbereich drängen sich frische teils lebendige Waren, Handel treibenden Landwirte und kauffreudiges Volk. Auf einer der Warentresen hat eine alte, klein gewachsene und leicht buckelige Frau ihr Angebot ausgebreitet: Salatgurken, Tomaten, etwas Petersilie und ein paar nicht essbare Kleinigkeiten: Schmuckstücke oder alte Ordensmedaillen. Gut, dass es hier gerade keine Elstern gibt. Aber: Da ist ein junger Mann. Er betrachtet kurz die Auslage. Dann greift er schnell zu und läuft weg, so schnell ihn seine jugendlichen Beine tragen. Sportlich eine Glanzleistung.
Die alte Händlerin schreit auf. Und ruft dann: „Haltet den Dieb!“ Natürlich ruft sie es auf Russisch, wie damals in Odessa üblich. Auch typisch für Odessa war die Schimpfkanonade, die dem Flüchtigen nachschoss.
Ich dachte mir: Hoffnungslos, der Mann ist weg – und mit ihm die Medaillen wie das geklaute Gemüse. Etwa die Salatgurke.
Ja, die Gurke war aus der Auslage verschwunden, das sah ich richtig. Aber bei einem anderen Punkt irrte ich mich.
Musik: Der Reiseleiter (hier instrumental. Original Text +M.: Th. Steinhoff, Odessa 1991)
Der schlaue Dieb lief genau zwischen den Reihen von Marktkunden durch. Geschickt. Nur rechnete er nicht mit dem alten Kodex der sowjetischen Zivilgesellschaft!
Wer mal mit einem Bus oder einer Straßenbahn in der UdSSR gefahren ist, weiß, was ich meine: Egal, wie viele Menschen zwischen dir und dem Fahrkartenentwerter stehen: Übergib deine Karte einfach dem Menschen vor dir. Die Fahrkarte kommt garantiert zu dir zurück. Abgestempelt natürlich.
Der Gurken-und-Medaillendieb hatte keine Fahrkarte. Er dachte wohl: Django braucht sowas nicht. Falsch. So geschickt Django auch rannte, es fuhren doch mehrere Beine aus und brachten ihn zu Fall. Der Dieb kam keine 20 Meter weit. Als er sich aufrappeln wollte, hielten ihn ein paar kräftige Männerarme unerbittlich unten. Wer ihm schlussendlich aufhalf, war ein junger Milizionär.
Ein Guter! Der Uniformierte nahm ihn, den Dieb, wortwörtlich fest, legte ihm Handschellen an und – lächelte. Während er sich mit seinem Gefangenen nicht von der Stelle rührte.
Ratlos blickte der Dieb den Milizionär an und fragte, warum er nicht abgeführt werde.
Der Milizionär sagte etwas, was ich nicht verstand. Aber dafür verstand ich, was die Amtshandlung verzögerte: Das Warten auf die Ankunft der Schnellen Einsatztruppe.
Durch die wieder offene Gasse zwischen den Marktkunden kam – so schnell sie eben konnte – die bestohlene Marktfrau. Das brauchte seine Zeit, ein Gehstock passte sich dem eher langsamen Gehtempo an. Dann aber wirbelte er, der Gehstock, ließ mille Grüße aus der Marktfrauenlegion auf den Dieb einprasseln.
Bis dieser den Ordnungshüter anflehte: „Bitte führen Sie mich ab, Milizionär! Sonst schlägt die alte Frau mich noch tot.“ Der Milizionär grinste und ließ die inoffizielle Kollegin vom Vollzug noch etwas gewähren. Strafe muss sein, mochte er denken. Und ja, was für ein Strafvollzug! Wow. Und was für ein spitzenmäßiger Kodex.
Das mit dem Kodex ist ein Gedanke von mir. Wenn endlich wieder Frieden ist, muss es harte Strafen für die Mörder geben. Es geht dann um ganz Anderes als ein paar Schmuckstücke, die der Dieb der alten Frau zurück gab, bevor er dann abgeführt wurde.
Menschenleben sind unwiederbringlich. Trotzdem hoffe ich, dass es nicht Barbarei sein wird, die Barbarei bestraft. Gott helfe dir, Ukraine. Zeige dich deines Ruhmes wert, wenn es so weit ist. In diesem Sinne: Slava Ukraini.