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1995

Episode 37: Pyramiden am Strand

Pyramiden? Ägypten? – Nein. Zwar Paßcha, also das Vorübergehen Gottes in Ägypten. Aber in Odessa gebacken. Oder geformt, ich weiß nicht genau.

KI-generiertes Bild nach Prompt „Bright Egyptian pyramide seen from a sail ship on turbulent sea conditions. Oil painting“
Bild erzeugt von https://deepai.org/machine-learning-model/text2img
Text und Audio sind im Odessa-Podcast immer 100% echt Thorsten Steinhoff. Das Bild ist hier aber KI-generiert. 😉

Kennt Ihr das auch? Ihr wollt eine Pyramide bauen, legt hoffnungsvoll das Fundament, baut mit Schmackes bis zur zentralen Kammer und dann… haut‘s einfach nicht hin? – So ging es mir mit Episode 37 beim ersten Anlauf.

Hier kommt der zweite Anlauf. Was bisher geschah, im ersten: In der Karwoche 1995 brach ich von Odessa ins Heilige Land auf. Meine erste und wohl einzige Pilgerreise per Flugzeug. Das Passagier-Schiff fuhr leider zwei Wochen zu spät. Und der Fußweg, den eine orthodoxe Gemeinde damals regelmäßig unternahm, fand in jenem Jahr nicht statt.
So landete ich mit Air Ukraine, featuring El-Al, in Tel Aviv, fand nach Zwischenstopp da rechtzeitig Quartier in der Altstadt von Jerusalem und feierte Ostern auf einer Dachterrasse mit dem Schlafsack als buchstäblichem Himmelbett.

Das hier ist ein Odessa-Podcast, weswegen meine Reiseabenteuer in Erez Israel nicht das Thema sind. Wen es trotzdem interessiert: Einfach per Mail Bescheid geben, dann mache ich dazu einen kleinen Ableger-Podcast. Wäre mir ein Vergnügen. Zur Zeit sogar ein Anliegen.

Für den Moment, also die Episode 37, soll es genügen, dass ich auf dem Jerusalemer Dach einen Brief an meine Herzensdame schrieb. Einen Liebesbrief der besonderen Art.
Für die Jüngeren: E-Mail gab es damals schon, aber kein WLAN. Auch kein Mobilfunknetz. Nicht einmal in einem technisch weiter fortgeschrittenen Land, wie es Deutschland damals nicht, Israel aber sehr wohl war. Also schrieb ich von Hand ohne Fotos oder Videos. Ich musste damals noch schriftlich beschreiben, was ich sah und erlebte.

Zum Beispiel das hier: Ich schrieb gerade an besagtem Brief, als plötzlich ein Mann um Mitte 40 auf mein Dach kam. Ja, auf mein Dach. Denn hier hatte mir die Herbergsmutter einen Platz angewiesen, wo ich vielleicht bis Ostermontag bleiben konnte. Es war ein schöner Platz und zu meinem Schlafsack hatte man mir sogar ein Kissen spendiert, was den Beton-Boden kuschelig machte. Es war Karsamstag und der Sonnenuntergang war noch einige Stunden entfernt.
Der Mittvierziger sprach mich auf Englisch an, was in Israel damals üblich war, wenn man mit offensichtlichen oder mutmaßlichen Ausländern sprach. Er stellte sich mit dem Vornamen Michael vor, sprach seinen Vornamen also nicht englisch sondern hebräisch aus.
Ich fand Michael sympathisch und wollte ihm freundlich auf seine Frage antworten, ob hier noch ein Platz frei sei. Auf Englisch natürlich. Jetzt war ich aber gerade dabei gewesen, einen Brief auf Russisch zu verfassen, mit ein paar deutschen Einsprengseln. Es passierte, was passieren musste: Ich antwortete Michael russisch.
Er guckte kurz leicht irritiert und – hey, this is Israel! – sprach im folgenden Russisch.
Michael – oder englisch Michael – war ein amerikanischer Jude, der mit einer Gruppe junger Leute in der Nähe des Ölbergs kampierte. Er lud mich ein, doch einmal vorbeizukommen. Sie seien zwar eine religiöse jüdische Gruppe, aber wenigstens er finde es interessant, einen deutschen russischsprachigen Katholiken als Gesprächsgast zu haben. Das klappte leider nicht. Denn ab Dienstag der Osterwoche war ich nicht mehr in Jerusalem, sondern wieder in Tel Aviv.

Tel Aviv hat viel gemeinsam mit meiner Wahlheimat Berlin. Übrigens fühlte ich mich viele Jahre später auch im andalusischen Cádiz an Tel Aviv erinnert. Vor allem am Strand. Und in Odessa? Hat ja auch einen Strand. Aber nein, das war und ist etwas Eigenes. Mit Pyramiden. Dazu mehr nach der Musik.

(Musik: Walking Odessa the E-Way)

Hä? Pyramiden? Ägypten? – Nein. Zwar Paßcha, also das Vorübergehen Gottes in Ägypten. Aber in Odessa gebacken. Oder geformt, ich weiß nicht genau.
Als ich aus Israel zurück kam, wartete diese traditionelle Oster-Süßspeise auf mich. Nachdem ich eine äußerst eigenwillige Taxi-Fahrt absolviert hatte.

Es ist an dieser Stelle wichtig zu wissen, dass 1995 der öffentliche Personennahverkehr in Odessa gratis war. Laut Aussage einiger ortsansässiger Freunde war das ein eingelöstes Wahlversprechen des amtierenden Bürgermeisters. Wie so oft in Odessa galt das nur in der Theorie. Ja, man kam tatsächlich kostenlos von der Innenstadt zum Flughafen. Mir stahl zwar dabei ein brillanter Taschendieb meine Barmittel, aber das ist eine andere Geschichte. Bei der Fahrt vom Airport zur Tschizhikova-Straße war es anders.
Einmal pro Stunde fuhr ein kostenloser Linien-Bus. Als ich aus dem Flughafen-Gebäude trat, konnte ich zwei davon sehen: Einen, der gerade losgefahren war und den nächsten. Bis zur folgenden planmäßigen Abfahrt waren es gut 50 Minuten. Ich wartete geduldig, während die anderen Angekommenen in Privat-Autos oder Taxis einstiegen. Darunter Geschäftsleute aus Österreich. Anders als sie hatte ich keinen Chauffeur und nur noch sehr wenig Bargeld.
Die knappe Stunde verging, dann stand ich mutterseelenallein am Bus-Halteplatz. Der Linienbus kam heran, hielt und der Fahrer grinste mich an. Dann fuhr er los, ohne die Tür geöffnet zu haben.

Mein Gesichtsausdruck muss zum Erbarmen gewesen sein. Sofort kam ein Taxi. Der Fahrer, ein blutjunger Mann, stieg für seinen einzigen möglichen Fahrgast aus. Und fragte, wohin ich wolle. „In die Tschizhikova“ antwortete ich und fragte vorsorglich, was die Fahrt koste. Der Taxifahrer musterte mich und erkannte, dass hier nicht viel zu holen war. „Wieviel Geld haben Sie denn, junger Mensch?“ – Schon lustig, wenn ein Frühzwanziger einen Mittzwanziger so anredet, aber so ist das im Russischen. – Ich stöhnte und antwortete wahrheitsgemäß „Fünfzig Shekel.“ Das entsprach damals ungefähr 5 D-Mark und war gar nicht so wenig. Aber dafür in einer Währung, die sich kaum wechseln ließ. Ich rechnete damit, auf den nächsten Bus warten zu müssen, der vielleicht wieder…?
„Haben Sie wirklich keine Dollar?“ fragte mich der Taxifahrer. Ich sah schon das Grinsen desselben Busfahrers. „Nein.“ antwortete ich. Und – ich erlebte Erbarmen. „Gut. Steigen Sie ein. Ich nehme die 50 Shekel.“
Wir hatten eine richtig schöne Fahrt mit einem sehr netten Gespräch.

Ungefähr eine Stunde später hielt das Taxi vor unserem Innenhof. Die Familie freute sich über meine Rückkehr und fragte mich tüchtig aus.

Tags darauf besuchte ich meine Herzensdame. Sie hatte extra für mich eine traditionelle Paßcha, eine österliche Quark-Pyramide, gebaut. Mit Dachschaden. Nah dran an einer Ruine. „Sie schmeckt ausgezeichnet“ lobte ich. – „Wenigstens lügst du gut“ sagte Ix.

Ach was, ungelogen. Das Auge isst mancher vielleicht mit. Aber diese Pyramide hatte kein Auge. Eine russische Paßcha ist doch kein Dollar-Schein. Right, Michael? See you, Lehitraoth!