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1994

Episode 38: Festival der engen Grenzen

Die deutsche Redewendung, nach der die Welt klein sei, gibt es auch im Russischen. Nur dass die Welt hier eng ist, nicht en miniature. In Episode 38 geht es um kleine Geister mit allzu engem Weltbild – das sie anderen aufpressen wollen.

Kein Platz für kleine Geister – Ostsee-Steg am Strand von Malmo

Die deutsche Redewendung, nach der die Welt klein sei, gibt es auch im Russischen. Nur dass die Welt hier eng ist, nicht en miniature. In Episode 38 geht es um kleine Geister mit engem Weltbild.

Schlimmer geht nimmer. Schlimmer als jetzt. Das mochte 1994 Überzeugung der Veranstalter sein, die Odessas junge Menschen per Zeitungsinserat zu einem Rock-Konzert einluden. Der Eintritt war frei. Der Titel der Veranstaltung führte in eine andere Richtung. Nix da frei. „Festival gegen Grenzenlosigkeit“ nannte sich die Sause.

Der Festival-Name führte zu Fragezeichen in den Augen vieler Odessiten. (Bitte seht mir nach, dass ich hier nicht gender. Sonst mache ich das, aber an dieser Stelle wäre es mindestens zweifach historisch nicht korrekt.) Ich kannte die immer noch frisch nach-sowjetische Bevölkerung Odessas als hochgradig weltoffen. Klar, Grenzbeamte sahen das berufsbedingt meist anders. Aber denen wollte niemand ihre Arbeitsstelle, den Grenzposten, wegnehmen. Jedenfalls war ich damals noch niemand begegnet, der ernsthaft alle Landesgrenzen abschaffen wollte. Also: Wozu dieses Festival? Waren etwa die Stadtgrenzen von Odessa in Gefahr?

Hundert Jahre früher, also im 19. Jahrhundert, gab es dazu einen Scherz in der jüdischen Bevölkerung, die Odessas Kultur geprägt hat, wie keine andere der rund hundert Ethnien meiner Herzensheimat. In Odessa lebten einige der bedeutendsten jüdischen Literaten. Und auch die konnten sich, wenn sie wollten, in das quirlige Treiben einer quicklebendigen Hafenstadt stürzen. Sollen Kunstschaffende in Hamburg ja ab und zu heute noch machen. Der Freihafen Odessa war ein freier Ort, wo der Zar weit weg war. Also: let’s have a party! Davāj.

Sittenstrengen Menschen passte das nicht, egal welcher politischen Weltanschauung oder Religion. Chassidischen Gläubigen, die im Umland lebten, sagten nicht wenige liberal-säkulare Kultur-Enthusiasten nach, dass sie Odessa für ein neues Babel halten müssten. Also legte man den Strenggläubigen in den Mund, dass rings um Odessa der Höllengraben brenne. – Ich bin mir sicher, dass das niemand wirklich dachte, das hätte man ja sehen können. Oder wenigstens – riechen.

Zurück in die Zukunft – oder in die für uns heute, Anno 2024, näher liegende Vergangenheit. Es gab 1994 Stadtteile, in denen es brandig roch, Peresyp zum Beispiel. Aber das kam von der dort angesiedelten Industrie, nicht von infernalischen Orgien oder sonstigen Höllen-Events. Trotzdem: In einem Zeitungsinterview beschrieb der Festival-Veranstalter, wie er zu dem Namen „gegen die Grenzenlosigkeit“ gekommen sei. Große Überraschung: Die Jugend von heute, die nicht mehr der bewährten eisernen Sowjet-Ordnung und Moral folge, sei auf dem grundfalschen Weg. Keine Manieren mehr, kein Anstand, dafür Drogen, Krawall und unerträgliche Frechheit. Mit diesem Musik-Festival wolle man den jungen Leuten eine andere Kultur aufzeigen.

Als wir Drei von der Tschizhikova diesen Zeitungsartikel gelesen hatten, waren wir unterschiedlicher Meinung, ob es gut wäre, zum Konzert zu gehen. Ich für meinen Teil wollte nicht, ließ meinen Mitbewohnerinnen aber natürlich die freie Wahl, wie sie es halten wollten. Das Ende vom Lied: Sie schleiften mich mit. Kapellmeister: Musik! Ein sowjetischer Walzer, bitte. – Kommt sofort, mein Herr.

(Musik: Improvisation über Walzer von D. Schostakowitsch)

Der Saal war voll. Voll mit jungen Leuten. Deren Outfit ließ erwarten, dass jetzt nicht die alte Rotarmisten-Blaskapelle auf die Bühne kommen würde. Sie kam auch nicht, keine Uniform weit und breit. So blieb es, null Brass, null Textilblech. Stattdessen fand sich eine typische Band-Formation ein, Drums and Base, zuzüglich E-Gitarre und Front-Sänger. Die folgenden Gruppen waren ähnlich aufgebaut.
Ich muss dazu sagen, dass ich damals erst ein einziges nicht klassisches Konzert besucht hatte – das bis heute nicht getoppt werden konnte. Gut, mit der jungen Tori Amos lag die Messlatte enorm hoch. Da kamen auch die Soll-Grenzensetzer nicht ran. Was mir bei denen allerdings auffiel: Je weiter das Konzert voranschritt, umso bedröhnter wirkten die Musiker auf mich. Mh, irgendwie hatten die das Festival-Motto total falsch verstanden. Hihi. Oder im Gegenteil ganz genau. Und dann schafften sie es, den Betonkopf-Tanker zu kapern und in offene Gewässer zu fahren. Peace!

Ohne dem Konsum psychoaktiver Substanzen in irgendeiner Weise das Wort reden zu wollen, ich würde mir sehnlichst wünschen, dass mutige russische Bürger:innen – ja, hier gender ich mit voller Absicht! – ein Festival vor ihrem Präsidenten veranstalten. Wo sie ihm so richtig was Bewusstseinsänderndes in den Tee geben. Vielleicht hilft’s. Sonst: Wo bitte geht’s hier zum Höllengraben? Show me the way, Mr. President. Und dann hopps. Oh, hoppla.

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