Der Titel ist eine Nebelkerze. Für den großzügigen Einsatz verbaler Nebelkerzen war ich in den Neunzigern bei Freunden in Regensburg bekannt. Heute bewege ich mich in das Jahr 1993 zurück.
Ich war mit G. verabredet. Sie ließ auf sich warten. Sie durfte das, hat mich auch nur ein einziges Mal mutmaßlich versetzt. Um mir einen kleinen Vorwurf machen zu können.
Diesmal, im Frühjahr 1993, kam sie. Nur eben zu spät. Es fiel mir überhaupt nicht schwer, auf sie zu warten. Die Sonne schien freundlich auf die Oper und ihre Umgebung. Ich hatte mich auf eine Bank gesetzt und sann so vor mich hin. Mit 25 kann man das schonmal machen.
Was eine alte Dame dazu brachte, mich freundlich anzusprechen, weiß ich nicht mehr. Vielleicht war ich durch eine für lokale Altersgenossen ungewöhnliche Kleidung aufgefallen und sie wollte wissen, woher diese nachdenkliche Ausländer kam. Jedenfalls fragte Sie mich auf Russisch: „Junger Mensch“ – so sagt man das auf Russisch – „wo kommen Sie her?“ In nicht weniger freundlichem Ton und in jugendlicher Unbefangenheit antwortete ich „iz Germaniji“. Aus Deutschland. Was jetzt passierte, hätte ich im Leben nicht erwartet. Die Frau lief laut weinend und schreiend weg. Ich war wie vom Donner gerührt. Die Passanten gingen mich nicht etwa an, sie achteten mehr auf die alte Dame. Der ich nichts erkennbar Böses gesagt oder angetan hatte. Trotzdem: Ohne zu wissen oder auch nur zu ahnen, warum, fühlte ich mich schuldig. Dieses Schuldgefühl kann ich mir bis zum heutigen Tag, gut 30 Jahre später, jederzeit in lebhafte Erinnerung rufen.
Die Schockstarre dauerte eine gefühlte Ewigkeit, in Wirklichkeit aber wohl nur wenige Minuten. Da kam die alte Frau zurück und blieb vor mir stehen. Neben mir war ein Sitzplatz frei, aber den wollte sie offenbar nicht. Ihr Gesicht war aber nicht etwa feindselig, sondern schien um Verständnis zu bitten. Sie hob so an:
„Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, molodôj tschelovêk – junger Mensch. Sie können nichts dafür, Sie gehören zu einer Generation, die keine Schuld trägt. Aber als Sie sagten, dass Sie aus Deutschland kommen, musste ich an meine Eltern und viele Verwandte denken. Ich stamme aus einer jüdischen Familie und die Deutschen haben fast alle aus meiner Familie ermordet.“
Diese „Entschuldigung“ der alten Dame beschämte mich nachhaltig. Ich bekam eine Lektion, die ich vermutlich bis zu meinem letzten Lebenstag nicht vergessen kann. Jedenfalls hoffe ich das.
Zuletzt lächelte die Dame und wir unterhielten uns. Jetzt hatte sie sich doch noch neben mich gesetzt. Mit großem Interesse hörte sie, dass ich über jiddische Sprache und Kultur in Odessa zu forschen anfing. Ich wohnte als Untermieter in einer Wohnung mit Telefon, was damals eher die Ausnahme war. So gab ich der Dame auf Nachfrage meine Telefonnummer. Und, was soll ich sagen, zwei Tage meldete sich bei mir ein mutmaßlicher Mittdreißiger, den seine Oma auf mich hingewiesen hatte. Ich glaubte, einen interessanten Interviewpartner für eine Familiengeschichte gefunden zu haben und präparierte meinen mitgebrachten Kassettenrekorder. Es folgt Musik von meinem „Schwarzen Band“, aufgenommen in den Neunzigern.
Musik: Southern Veranda rock’in (Das Schwarze Band, 1993)
Er wirkte ernst, der Mann, den ich freundlich in meine Wohnküche einlud. Ich fragte, ob ich unser Gespräch aufnehmen dürfe, was er mit hauchfein zögernder Miene bejahte. Ich dachte mir: Okay, wer liebt es schon, von fremden Leuten aufgenommen zu werden.
Ich hatte Fragen vorbereitet. Etwa: Welche Rolle hatte das Jiddische für ihre Großeltern und vielleicht auch noch Eltern? Haben Sie als Kind noch Jiddisch gehört? Allesamt Fragen, auf die ich später pointierte Antworten bekommen sollte. Aber diesmal, bei meiner ersten Interviewaufnahme überhaupt, bekam ich auf alle Fragen nur die immer gleiche Antwort: Nein.
Nach einigen Minuten erkannte ich, dass ich von diesem Mann, der höchstens 10 Jahre älter war als ich selbst, nichts über Spuren jüdischen Lebens im allgemeinen und jiddische Kultur im besonderen erfahren würde. Also bedankte ich mich für das Gespräch und schloss mit der höflichen Frage, ob er Fragen an mich habe. Unabsichtlich ließ ich die Aufnahme weiter laufen.
Verflixt, ich hatte nur zwei Kassetten mitgenommen und bekam in Odessa keine zusätzlichen. Für spätere Interviews, die fachlich weitaus mehr brachten, musste ich die Aufnahme vom sich jetzt empörenden Gesprächspartner überschreiben. Ja, er war tief empört, was sich wenigstens damals durch ein besonders schnelles Sprechen ohne Betonungen ausdrückte. Warum ich ihn so sehr nach seinem jüdischen Familienhintergrund fragte. Ob das für die Arbeit wirklich so eine große Rolle spiele. Und wenn ja: warum?
Ich war überrascht. Meine Güte, ich war jung und brauchte – nein, kein Geld. Nur Informationen für mein potentielles Abschlussthema. Das sagte ich ihm. Und dass ich seiner Großmutter genau das gesagt hatte. Der Mann sah mich erstaunt an. „Ach, Sie sind gar kein Firmenchef aus Deutschland? Sie suchen gar keine Mitarbeiter?“ Ich verneinte. Und meinte, es tue mir leid, dass da so ein Missverständnis entstanden sei. Fand er gar nicht gut. Während ich von seiner Großmutter ein herzliches und versöhnliches Lächeln sowie ein nettes Gespräch bekommen hatte, schenkte er mir einen flüchtigen Händedruck und eine bitter enttäuschte Miene. Inklusive der gebrummten Botschaft, dass er vollkommen umsonst die weite Strecke mit der Straßenbahn gefahren sei.
Tja, dumm gelaufen für ihn. Ich hoffe, er fand später noch einen spendablen und dankbaren Arbeitgeber. Heute dürfte der Mann fast im Rentenalter sein. Das in Kriegszeiten zu erleben – grausam.
Liebe Freunde, das war die vorletzte Folge meines Odessa-Podcast. Episode 40 wird nochmal leichter. Und Ihr erfahrt, was Ihr tun könnt, damit es doch weitergeht. Keine Angst, Ihr braucht keine Interviews zu geben. Aber Jobs gibts auch nicht. Lebt wohl, Schalom.