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1991 2008

Episode 40 mal x

Das Òdēssa, in das ich mich vor gut 30 Jahren unsterblich verliebte, ist gestorben. Das neue Одеса soll leben! – Zeit für den Abschied vom Odessa-Podcast.

Neues unverwüstliches Blattwerk wächst über einen abgestorbenen Baumstumpf.
Одесса ist tot. Одеса wird leben.

Oje, was für ein seltsamer Episodentitel. Aber bei der vorläufig letzten Folge meines Odessa-Podcasts erlaube ich mir das einfach mal.

Dabei ist es eigentlich ganz einfach: Wie mein erstes Podcastprojekt beende ich auch dieses mit der vierzigsten Ausgabe. Wobei einige Ausgaben mehrere Teile hatten, das war neu. Fast überflüssig zu bemerken, dass diese Mehrteiler besonders viel Herzblut enthalten. Wer möchte, kann sie ja nochmal anhören.

Okay, die 40 wäre geklärt. Aber was hat es mit dem „mal x“ auf sich?

Wer des Russischen oder Ukrainischen mächtig ist, weiß: Vierzig heißt in beiden Sprachen „ssōrok“. Ein schräges Wort, denn die anderen slawischen Zahlwörter lassen sich leicht mit indoeuropäischen Standards nachvollziehen. „Dva“ für „zwei“, „tri“ für „drei“, „týssjatscha“ für – na, was wohl? Kriegt jeder Indoeuropäer auf die Reihe. Aber „ssōrok“? Was zum – Geier?!

Mit dem geflügelten Aasfresser hat das Zahlwort „ssōrok“ womöglich etwas zu tun. Es bedeutet nämlich wörtlich übersetzt „Fellbündel“. Aus vierzig Fellen, vorzugsweise noblen Pelzen. Und wenn einem geborenen Edelpelzträger das Fell über die Ohren gezogen wird, dann dürfte für Aasfresser etwas abfallen. Ich weiß nur nicht, wie es um die Geier-Populationen in den Urwäldern Osteuropas aussah, als das Wort entstand. Naturhistoriker:innen mögen es wissen.

Ich war nie Historiker. Der erhabene Gestus, der meinen die Geschichte erforschenden Kommilitoninnen und Kommilitonen oft zu eigen war, blieb mir fremd. Nerd war ich nicht weniger, aber auf andere Weise.

Dass dieses Podcastprojekt zu Ende geht, hat vielleicht mit meinem Nerdtum zu tun. Es gibt so vieles, was ich noch gerne erzählen wollte. Aber wen soll das berühren? Das Òdēssa, in das ich mich vor gut 30 Jahren unsterblich verliebte, ist gestorben. Und es wird nie wieder aufstehen, nicht in dieser Welt. Ich hoffe mit aller Kraft, dass es ein neues Odèßa geben wird, eines, in dem die jetzt noch jungen Menschen in Frieden alt werden. Gebe es Gott. – Aber ich bin nur ein Zeuge des Vergangenen. Das sich durch ganz normale gesellschaftliche Entwicklungen veränderte. Und das dann durch den unsäglichen kriegerischen Angriff der Russischen Föderation an den Rand des Daseins kam. Das alte Òdēssa war alles andere als frei von Konflikten und viel zu oft himmelschreienden Zuständen. Aber es blieb Òdēssa, die Perle am Schwarzen Meer. Bewohnt von Menschen, die eine Vielfalt lebten, für die 40 als Zahl nicht ausreicht. Man müsste schon mehrere Nullen anhängen und einen Faktor dazu gewinnen. Vielleicht die Sprachen, die im Odessa des 20. Jahrhunderts gesprochen wurden: Russisch als lingua franca, aber auch Französisch, Griechisch, Jiddisch, Polnisch, Rumänisch, Ivrith, Englisch, Deutsch, Armenisch etcetera. Und natürlich Ukrainisch. Auch wenn ich das in den Neunzigern und Nullerjahren auf Odessas Straßen mit am seltensten gesprochen hörte. Dafür um so häufiger gesungen.

Ganz am Anfang, 1991, ich erwähnte es in Episode 2, hörte ich am Strand von Bugās zu, als einige ganz junge Frauen ukrainische Lieder sangen. Was ich noch nie erzählte und jetzt nachhole: Das erste Lied, das mir eine Russisch sprechende Odessitin beibrachte, war ein ukrainisches Volkslied. Ich kann den Text und die Melodie bis heute auswendig. Und es war ein Spaß, als ich es zuletzt vor etwa neun Jahren mit russischstämmigen Leuten in Berlin sang. Denn auch wenn die Wörter manchmal eher dem Polnischen verwandt sind: Der Liedtext ist für alle, die einer slawischen Zunge mächtig sind, ganz einfach mitzusingen und zu verstehen.

In der zweiten Strophe heißt es:
„…Du sagtest am Dienstag, dass du mich vierzig Mal küsst…“

Und dann geht es weiter wie in allen anderen Strophen. Dass auf das Versprechen nichts folgte, die Angebetete nicht kam und den armen Jungen, den lyrischen Sänger, so noch um den Verstand bringe.

Die unbarmherzige Schöne erscheint auch nicht, als ihr Verehrer mit einem Kreuz aus unvergänglichem Eichenholz zu ihrer Beerdigung kommt. Einmal muss Schluss sein, mag sie sich denken. Ich schick den Typ in die Wüste.

Ein lustiges Ende. Mir dagegen tut schon etwas weh, wenn ich diese vierzigste Episode mit einer Klavierversion von „Ty kasāla“ beschließe. Es war mir eine Freude, von Odessa zu erzählen. Wenn jemand von Euch doch mehr hören möchte, teilt es mir mit. Ansonsten: Lebt wohl! Für das Odèßa der Gegenwart und Zukunft: Бажáю тобі миру.

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