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Odessa

Episode 36: Unter Palmen

Nach der Palmsonntags-Messe zog ich mit meinen zwei afrikanischen Freunden hinaus und wir gingen, die bunten Zweigbündel stolz präsentierend, noch einige Hundert Meter zusammen.

Kleine Ikonostase mit Palmzweig am Palmsonntag 2024
Klein aber mein und mit Palmzweig: Wohnungs-Ikonostase

Vorab eine Entschuldigung wegen der ausgefallenen Folge vom 18. März. Auch ein Hippie muss mal Ihr wisst schon. Und auch ein Podcaster bekommt mal eine Diagnose, die er erstmal verdauen muss. Aber Gefahr erkannt, Gefahr im Griff. Es geht weiter.

Und zwar diesmal ausnahmsweise wieder am altgedienten Launchday, dem Sonntag. Aus gutem Grund, denn diesmal geht es um zwei Palmsonntage.

Der erste Palmsonntag, von dem ich erzählen möchte, fand 1995 statt.
Ich hatte mich zeitig auf den Fußweg von der Tschizhikova-Straße aufgemacht, die heute den schöneren, aber für deutschsprachige Zungen schwierigeren Namen „Vulitsa Pantelejmonivska“ trägt. Keine Palmen weit und breit. Aber ich meine mich an Bäume zu erinnern, die aus dieser Straße de facto ein Allee machten. Die Jekaterīninskaja, heute ukrainisch Katerynynska, zu der ich an diesem Palmsonntag-Morgen 1995 wanderte, war sicher eine Allee. Natürlich ebenfalls ohne Palmen. Die würden sich in der kühlen Steppenlandschaft, die der Bezirk Odessa seit jeher ist, kaum wohlfühlen. Schon gar nicht damals, als das Wort „Klimawandel“ im allgemeinen Vokabular noch nicht angekommen war.

Apropos früheres Vokabular: Das World Wide Web kannten damals nur wenige eingeweihte wissenschaftlich Tätige. Ich hatte gerade einmal erste Berührung mit dem Medium E-Mail. Heute verrät mir ein WWW-Schulferienportal, dass sich das nachfolgend Berichtete am 9. April 1995 abspielte.

Zurück also auf die damals noch russisch benannte Ulitsa Jekaterīniskaja, die in sowjetischer Zeit nach Karl Marx benannt gewesen war.
Es waren nur wenige Gehminuten von Haustür zu Kirchhof. Auf dem Weg fielen mir einige ältere und alte Frauen auf, die mutmaßlich dasselbe Ziel hatten wie ich, die katholische Kirche. Sie waren viel besser ausgestattet: Sie trugen herrlich frische grüne Zweige, teils mit bunten Schleifen. Mir war bis dahin nicht bewusst, dass der mir aus Deutschland geläufige, aber nicht liebe Brauch der symbolischen „Palmzweige“ auch in Odessa gepflegt wurde. Während ich an einer Ampel wartete, den ortsüblichen Gebräuchen klar widersprechend, denn echte Odessiten warteten nicht auf grünes Licht, erkannte mich eine alte Dame. Ich war in Odessa zwar kein Kirchenmusiker. Aber als ehrenamtlicher Caritas-Mitarbeiter oder in der Fastenzeit 95 täglich die Heilige Messe mitfeiernder Ausländer dürfte ich bekannt gewesen sein. Die alte Frau, selbstverständlich mit Kopftuch, wie es in der Kirchengemeinde für Frauen jeden Alters geboten war, sprach mich an und fragte, warum ich denn keine Zweige trüge. Ich zuckte mutmaßlich mit den Achseln und brabbelte russisch wohl etwas wegen mangelnder Brauchtums-Kenntnisse. Noch bevor die Ampel auf Grün schaltete, teilte die Gläubige ihren prächtigen Palmbusch auf und gab mir eine Hälfte ab. Sankt Martina sozusagen, nur ohne Schwert. So ausgerüstet erreichte ich, jung und schnell gehend, wie ich war, die Kirche Marien Entschlafen. Vorbei an der hellblauen Mariensäule und hinein in das Gotteshaus. Ich kam, wie meistens, zur zweiten Sonntagsmesse, die in russischer Sprache gehalten wurde. Danach zog ich mit meinen zwei afrikanischen Freunden hinaus und wir gingen, die bunten Zweigbündel stolz präsentierend, noch einige Hundert Meter zusammen. Teilweise irritiert beäugt von diversen Passanten. An diesem ganz normalen Arbeitstag, den der Sonntag im allgemeinen und der römisch-katholische Palmsonntag im besonderen für viele Odessiten darstellte. Ich glaube, dass wir drei sogar noch einen Ohrwurm aus dem Gottesdienst trällerten. Der hier war es gewiss nicht: Singt dem König Freudenpsalmen!

Musik: Kirchenlied „Sing dem König Freudenpsalmen“
(GL 280)

Neunundzwanzig Jahre später. – Odessa hat wieder eine lange Nacht mit russischen Raketen- und Drohnen-Angriffen hinter sich. In andere ukrainischen Städten sind wieder Zivilisten getötet worden.
In Moskau versucht Putin, dessen Name getilgt sein möge, das entsetzliche Massaker an russischen Konzert-Besuchenden – der Ukraine in die Schuhe zu schieben. Tage zuvor hat ein Kreml-Sprecher die bis dahin verpflichtend so zu nennende „militärische Spezialoperation“ zum ersten Mal als Krieg bezeichnet. Gegen den Westen. Heidewitzka. Mir wird ganz warm ums Herz.

Trotzdem feierten wir Palmsonntag in Berlin Neukölln. Für mich verbunden mit einer Premiere: Zum ersten Mal ging ich ohne gesegnete grüne Zweige nach Hause. Man hatte den Organisten wohl vergessen. Kann ja mal passieren. Der wild dornige Bewuchs der Sonnenallee verhalf mir doch noch zu einem Palmzweig für die heimische kleine und unorthodoxe Ikonostase. Obschon zwei der drei Ikonen russischen Ursprungs sind.
Den Palmzweig 2024 habe ich zwar von der eher arabisch bestimmten südlichen Sonnenallee. Aber wenige Meter vor der Haustür bekam ich noch einen ukrainischen Palmsonntags-Segen. Eine alte Dame, die ich schon etwas länger kenne und die russischsprachige Deutsch-Ukrainerin ist, hielt gelb geschmückte Zweige mit Weidenkätzchen in der Hand. Gespielt neidisch sprach ich sie an: „Sie haben einen viel schöneren Osterzweig als ich!“ Sie grinste und neigte sich mir entgegen. Ich dachte, sie wolle mich vielleicht als christlichen Glaubensbruder umarmen. Knapp daneben. Sie versohlte mir – rein symbolisch – mit ihrem Palmzweig den Rücken. Ein Passant, der sich zuvor mit ihr auf Russisch unterhalten hatte, meinte zu mir in schönstem Berliner Dialekt, dass doch eigentlich nur Frauen am Palmsonntag einen Zweigstrauch trügen, um damit Männern auf den Rücken zu schlagen. Tja, dit is Berlin, Alta. Andere Straßen, andere Sitten. Ich möchte Russisch schließen: Mir vsjem! Frieden allen!

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