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1994 1995

Episode 03: Die furchtlose kleine Schwester

Auguste Alfred, Sr. Elisabeta und der Autor 1994

Klein aber oho – das traf auf mich nie zu. Umso mehr auf Sr. Elisabeta, der diese Odessa-Podcast-Episode gewidmet ist.

„Ich habe keine Angst hier draußen“ sagte Schwester Elisabeta, als wir uns dem Plattenbau-Wohnheim näherten. „Die jungen starken Männer hier passen auf mich auf. Das haben sie schon einmal gemacht.“

Zusammen mit der blutjungen Salesianerin Sr. Elisabeta war ich zu einem afrikanischen Essen eingeladen. Zwei Studenten, Narcisse und Auguste Alfred, gehörten zur römisch-katholischen Gemeinde „Marien Entschlafen“. Hier war 1994 und 95 mein persönlicher Dreh- und Angelpunkt, schon weil ich ehrenamtlich für die hier angesiedelte Caritas Odessa arbeitete.
Schwester Elisabeta, deren niedlicher Akzent im Russischen sie leicht als Polin zu erkennen gab, kümmerte sich um ausländische Studierende. Die waren meistens aus ehemaligen sozialistischen Bruderländern nach Odessa gekommen. Und suchten Anfang der 90er Jahre Anschluss an eine katholische Gemeinde. Es gab zwei davon.

Die Kirche, zu der Sr. Elisabeta und ich gingen, war zu sowjetischen Zeiten eine Sporthalle gewesen. Darunter hatte das im 19. Jahrhundert erbaute Gebäude, von der schönen Kuppel bis ins Fundament gelitten. „Natürlich mit Absicht“ wusste Vater Ignacy. Er, ein polnischer Salesianer Don Boscos, war nicht nur begnadeter Jugendseelsorger, sondern auch ausgebildeter Architekt. Das mochte seine Ordensoberen bewogen haben, ihn mit zwei Brüdern und einer Schar Salesianer-Schwestern nach Odessa zu senden. Nahe des berühmten Stadtteils Peresyp hatte ein anderer, älterer Priester seine polnische katholische Gemeinde durch die Sowjetzeit gebracht. Dieser Geistliche war eine schillernde Figur. Man sagte ihm nach, dass er gleichzeitig Salesianer und Jesuit sei, also Angehöriger von zwei sehr unterschiedlichen Ordensgemeinschaften. Ich habe ihn nur einmal getroffen und das lange bevor ich die Salesianische Familie an der damals nach Karl Marx benannten Straße kennenlernte. Hier galt er als Graue Eminenz.

Grau war unser Gemeindeleben ganz und gar nicht. Auch wenn Schwester Elisabeta stets ihr hellgraues Ordensgewand trug. Sie war ebenso liebenswert fröhlich wie resolut energisch – wenn es darauf ankam. Mit dem übervollen Oberleitungsbus im vollen Habit zu den Studentenwohnheimen am Stadtrand zu fahren, dieses völlig verwahrloste Gelände zu betreten und mitten rein in den nicht nur architektonischen Sündenpfuhl: Das war nichts für zarte Gemüter. Ich kannte Schwester Elisabeta bis dahin nur oberflächlich und kam so zu der Frage, auf die sie mir die besagte Antwort gab: Sie habe keine Angst hier draußen.

Mit einem für sie typischen Lächeln erzählte sie mir, dass heute außer „ihren“ Studenten ja noch ich auf sie aufpassen würde. Ich sei schön groß, das würde gemeine Feiglinge sicher abschrecken.

Während die junge Ordensfrau mir von ihren großen älteren Brüdern zu Hause erzählte, kamen wir zum Eingang des Wohnheims, das sie offensichtlich nicht zum ersten Mal betrat. Sie wusste, in welches hohe Stockwerk wir mussten. Im Wohnungsflur erwartete uns bereits Auguste Alfred.

Der aus Togo stammende Maschinenbau-Student gehörte zum harten Kern von Sr. Elisabetas Gemeindekreis. Seine strahlende Augen gewannen sogar abweisende Gemüter. Die Familie, bei der ich wohnte, war sehr schlecht auf nicht hellhäutige Menschen zu sprechen. Als mich Auguste Alfred das erste Mal zu Hause besuchte, zeigte die Hauswirtin, eine waschechte und eigentlich sehr herzliche Odessitin, mir mit einem Blick an, dass sie solche Besucher nicht wünsche. Aber Auguste Alfred brach das Eis. Indem er die Dame des Hauses in einer seiner zwei Muttesprachen anredete: Auf Französisch. Und das war rein zufällig die Lieblingsfremdsprache unserer lieben Valentina Petrovna. Alors.

Wie es um Sr. Elisabetas Französisch stand, habe ich nie erfahren. Unsere gemeinsame Sprache am liebevoll eingedeckten Esstisch im Wohnheim-Zimmer war Russisch, jeder sprach es mit seinem eigenen Akzent.

Als Hauptgericht gab es afrikanisch zubereitetes Hähnchen. Ob das Rezept aus Togo oder der Republique Côte d‘Ivoire stammte, der lustige Auguste Alfred oder der meist zurückhaltend tiefgründige Narcisse Küchenchef gewesen war – Schwester Elisabeta und mir war es egal. Zumal wir wie die Gastgeber katholisch waren. Katholisch heißt universal, weltumspannend. Hier und jetzt, im obschtschezhitije, zeigte Odessa einmal mehr, was es immer war und bleibt: weltoffen. Gewissermaßen katholisch. Kein Grund, Angst zu haben, Orthodoxie. Mama Odessa hat uns alle lieb. – Ja vam da skazhu za vsju Odéssu!

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