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1994 1995

Episode 26: Alles wird normal

То все будет нормально – „dann wird allit juut!“ würden meine Ur-Berliner wahrscheinlich sagen. 1995 war es in Odessa im Innenhof des Bejt Ulpán etwas anders gemeint.

Nicht käuflich. Der Podcaster 1994/95. 😉

То все будет нормально – „dann wird allit juut!“ würden meine Ur-Berliner wahrscheinlich sagen. 1995 war es in Odessa im Innenhof des Bejt Ulpán etwas anders gemeint.

Wir schreiben das Jahr 1995. Russische Truppen greifen Ziele in Tschetschenien an. Grozny ist seit Dezember 1994 umkämpft. Auf dem Fernseher der Familie K. in der Tschizhikov-Straße hält Boris Jeltsin lallend eine Rede, in der er beschwört: Nie wieder Krieg. – Kommentar eines Freundes aus Regensburg per E-Mail: „…Der Jelzin spinnt komplett. …“ Und damit war keineswegs die Wodka-Rede gemeint.

Unser Hauswirt Valerij nahm es gelassen. „Jeltsin ist ein Säufer. Aber er haut richtig drauf.“ Valerij fand’s gut. Ich nicht.

אבער נישט דאס בין איך ויסעו

Nicht davon wollte ich sprechen. – Valerij war ein richtiger Odessit, mit allen Wassern gewaschen. Soll heißen: Er war schon durch alle Meere seiner Umgebung geschippert. Schwarzes Meer, griechische Gewässer, Sizilien und Umgebung, für den Odessiten und seine Yacht alles blau, nicht weiß auf der Landkarte. Ja, liebe Post-Boomer – oder soll ich Afterboomer zu Euch sagen? 😉 – als es noch kein Google Maps gab, sprachen wir noch von weißen Flecken, wenn wir Unbekanntes meinten.

Valerij stammte aus einer jüdischen Familie. Laut eigener Aussage hieß er eigentlich „Fischmann“. Den Familiennamen mit K am Anfang, der dem deutschen „Schmidt“ entspricht, hatte die sowjetische Staatsmacht seinen Eltern eben aufgepfropft. Als Hobby-Philologe sah Valerij auch eine Anspielung auf das ähnlich lautende Wort für „Ziege“.

אבער נישט דאס בין איך ויסעו

Jiddisch sprach und verstand Valerij nicht. Als Seebär war er stolz auf sein niederländisches Fach-Vokabular. Das hatte er auf See gelernt, nicht im jüdischen Bildungszentrum. Wo ich ihn übrigens nie sah.

Ich war regelmäßig dort. Zum Recherchieren. Um mich mit den beiden Jiddisch schreibenden Autoren zu unterhalten beziehungsweise zu verabreden. Und um Ivrith, also Neu-Hebräisch zu lernen. Darum wird es in Folge 28 gehen. Und ich verspreche meinem Publikum ein absolutes Highlight. In vier Wochen. Cliffhanger-Alarm, wa?

In diesem Sinne jetzt erstmal Musik.

[Musik: A frajer. Mel.: Thorsten Steinhoff 1996]

Im Bejt Ulpan – im jüdischen Bildungszentrum Odessa – gab es eine reiche Fülle von Veranstaltungen: Ein Migdal Or-Theater – das bedeutet übrigens Leuchtturm, wie Cpt. Svitje von der LS Imagine wohl weiß, eine Beratungsstelle für Übersiedler, Ivrith-Sprachkurse, eine Bibliothek, einen Lesesaal mit russischsprachiger jüdischer Kinder-Literatur. Um nur einige zu nennen.

Das Gebäude war vor der Sowjetzeit eine Synagoge gewesen. 1994/1995 wurde direkt neben dem alten und sehr schönen Gebäude eine neue Synagoge gebaut. Federführend war ein chassidischer Rabbiner, der nicht an einem Treffen mit mir interessiert war. Ich nahm es ihm nicht übel. Jahre später erfuhr ich, dass wir einen gemeinsamen Kontakt hatten. Vielleicht ist es ja noch nicht zu spät. שלום, ה רב רב גיסר

Ich könnte mich heute noch in beide Beine beißen, dass ich damals, als ich ja noch blutjung war, keine Kontakte in den Jugendclubs geknüpft habe. Okay, es wäre nicht frei von Hindernissen gewesen. Ich erinnere mich gut an eine ältere Dame, die mich am Schwarzen Brett des Bejt Ulpan ertappte. Auf frischer Lesetat sozusagen. Sie fragte mich, wonach ich suchte. Ich antwortete ihr wahrheitsgemäß und auf Russisch. Sie blickte mich sehr skeptisch an und meinte: „Das wundert mich. Deutsche und Juden – das passt nicht zusammen.“ Ich enthielt mich einer Äußerung, dachte an eine dramatische Begegnung von 1993 zurück. Und wusste: Die Dame vertrat mindestens hier im Bejt Ulpan eine persönlichnbegründete Minderheitsmeinung. Die ich zu respektieren hatte.

Draußen im Innenhof saßen junge Leute, die meisten etwas jünger als ich damals. Sie hatten kein Problem mit mir. Ihre Probleme waren ganz anderer Natur. Ein Bursche sagte: „Wenn ich zehn Dollar verdiene, все будет нормально – zu Deutsch: wird alles gut.“ Und zog seine devuschka zu sich, die damit sichtlich einverstanden war. Denn sie zog mit. Wenn es doch nur so einfach wieder würde. Meinetwegen auch mit einer Handvoll Dollar.

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