„Dieses Kunststück kann ich auch vorführen.“ – Der das nach eigener Aussage einem ungläubig staunenden Deutschen gesagt hatte, war ein Poet aus der Literaturstadt Odessa. Das Kunststück war eine Stopka. Was ist das?
Kein Verkehrsschild. Mit Teilnahme am Straßenverkehr ist eine Stopka nicht vereinbar, mindestens nicht hier in Westeuropa. East is East und da sieht man das vielleicht ab und zu ein bisschen lockerer.
Das russische Wort „stopka“ leitet sich vom gemeinslawischen „sto“ ab, das nichts Anderes als „Hundert“ bedeutet. Sprachwissenschaftler wissen Bescheid, Stichwort Satem-Sprachen. Was der gemeine Indogermanistik-Professor nicht unbedingt weiß: Hundert wovon? Die Antwortet: Hundert Gramm Wodka. Gerne auf Ex getrunken. Genau dieses Kunststück meinte Mitte der 90er Jahre der damals jiddische Gedichte und Lieder schreibende Aleksándr Abrámovitsch Bejderman.
Odessa war viel früher, nämlich im neunzehnten Jahrhundert, eine Welthochburg jiddischer Literatur gewesen. Im Prinzip hielt Odessa diesen Status bis ins zwanzigste Jahrhundert. Aber da wechselten schon einige bedeutende jüdische Schriftsteller von der mameloschen, der jiddischen Mama-Sprache, ins Russische, in amerikanisches Englisch, oder ins Neuhebräische. Denn die Hafenstadt am nördlichen Ufer des Schwarzen Meers war einer der bedeutendsten Übergänge nach Erez Israel. Die deutschen Besatzer sorgten mit grausamsten Mitteln dafür, dass dieser Weg – nicht zuletzt als Fluchtweg – versperrt wurde. Noch gut 40 Jahre später, in den späten Neunziger Jahren, traf ich in Odessa Menschen, die Angehörige durch das Morden meiner Landsleute verloren hatten. Bis heute für mich sehr bedrückende Erinnerungen. Die Betroffenen sagten mir zwar stets, dass sie mich als Nachgeborenen nicht für diese Verbrechen verantwortlich machten. Aber wenn jemand weinend wegläuft, nachdem ich sage, woher ich komme, das vergisst man nicht. Niemals vergessen – das ist für mich seitdem mehr als nur eine Formel.
Aleksandr Abramovitsch vergaß auch nicht. Seine Eltern waren dem deutschen Vernichtungsverbrechen entgangen. Und sie hatten ihren Sohn so erzogen, dass er in der Sowjetunion weitgehend unbehindert aufwachsen konnte. Jüdische Speisevorschriften etwa, die kaschrút, an die sich seine Eltern streng hielten, wurden ihm regelrecht verboten. Der althergebrachte russische Antisemitismus, der in der SSSR fortlebte, sollte den Sohn nicht behindern. Der Lebens- und Bildungsweg führte ihn als jungen intelligenten Mann nach Moskau, wo er an der Lomonóssov-Universität Geschichte und russische Literatur studierte. Wie der staatliche Lehrplan in den späten Fünzigern und frühen Sechzigern ausgesehen haben mag? – Schwamm drüber. Beziehungsweise die eine oder andere Stopka.
In Odessa zurück und nach dem Tod des Vaters, beschäftigte sich der immer noch junge Dichter, zu dem Bejderman gereift war, mit der jiddischen Sprache. Für ihn keine mame-loschen, sondern tate-loschen. Denn Jiddisch hatte der Vater, der tate, gesprochen. Nur höchst ungern Russisch.
[Musikalisch untermaltes Gedicht Mit wemen?]
Mein Vater konnte sich seltsam benehmen,
etwa urplötzlich auf den Tisch hauen und
der Mama sagen: „Sprich Jiddisch!
Sonst verstehe ich dich nicht!“
Beide sind nicht mehr, es ist kein Wunder –
Man lebt nicht ewig, klagen die Menschen.
Manchmal sage ich mir: Rede Jiddisch.
Mit wem? Mit meinen Kindern etwa?
Seine Kinder, sagt Bejderman hier am Ende, verstehen kein Jiddisch mehr. Die Kinder gibt es, sie sind längst erwachsen und wissen unter Garantie, was eine Stopka ist und wie man sie korrekt wegzaubert.
„Dieses Kunststück beherrsche ich auch“ wiederholte der Poet aus Odessa, als er meine Eltern aufklärte. Und demonstrierte das anhand einer halben Stopka. Die dummerweise nicht aus russischem Kornschnaps bestand, sondern eine italienische Grappa war. Der Vodka-Stopka-erfahrene Poet hat deswegen gelitten. Sehr gelitten. Eine Nacht fast ohne Schlaf, erzählte er meiner Mutter am nächsten Morgen. Dafür habe er, Zitat: „geschwitzt wie ein Aff‘. Weil er das Kippfenster nicht als solches erkannte und deshalb nicht aufbekam. Leider habe er sich geschämt, deswegen nachzufragen. – Wenn falsche Scham an falscher Stelle vom eigenen Körper durch Schlafentzug bestraft wird, welche Strafe verdient dann fehlende Scham? Etwa die Scham dafür, Raketen auf Odessa zu schießen. Oder – mir fehlten vergangene Woche wirklich die Worte, um am Podcast zu arbeiten.
Aber jetzt geht es wieder, denn: Odessa darf nicht untergehen. Und wird es nicht. Nicht nach dem, was in einem der beliebtesten Volkslieder gesagt wird: Blühe mein Odéssa, blühe und erblühe wieder auf!