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1993

Episode 08: Ganz unten haben wir Forscher

Ich war jung. Ich war verliebt. Bis über beide Ohren. Und ich war – ganz unten. Im Keller des Literaturmuseums von Odessa.

Literaturmuseum Odessa, Foto von 2008

Ich war jung. Ich war verliebt. Bis über beide Ohren. Und ich war – ganz unten. Im Keller des Literaturmuseums von Odessa.

Natürlich war ich da nicht von Anfang an. Beide Jahre zuvor, 1991 und 1992, war ich im Erdgeschoss eingestiegen und hatte dann schnell die oberen Stockwerke erklommen. Nicht als Einbrecher. Und nicht alleine, denn ich war beide Male Mitglied einer Reisegruppe. Für die Partner-Uni-Studierenden aus Regensburg gehörte ein Besuch im Literatur-Museum von Odessa zum festen Programm. So hatte ich schon zweimal vor der Vitrine mit jiddischen Büchern Odessaer Autoren gestanden. Scholem Alejchem und Mendele Mojcher-Sforim, diese beiden Klassiker lebten und wirkten unter anderem in Odessa. In der Stadt, die nach einem alten Sprichwort, von einem höllischen Flammengraben umgeben ist. Beide Schriftsteller, der jüdischen Aufklärung, der Hasskalah, verpflichtet, hatten keine Angst davor. Dafür lockte im Odessa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts viel zu stark eine lebendige Verlags- und Zeitungsszene.

Die Hölle, die in den 30er und 40er Jahren über Odessa und weite Teile der Sowjetunion hereinbrach, blieb beiden Klassikern erspart. Scholem Alejchem verstarb 1916 in New York, der ältere «Großvater der jiddischen Literatur» 1917 in Odessa. Und anders als es der Menschheitsverbrecher, dessen Name vertilgt sein soll, es geplant hatte, überlebten die Zeugnisse jüdischer Autorinnen und Autoren „die Stunde“, Hebräisch: ha-Schoáh.
Dass auch die Sprache der osteuropäischen Juden, Jiddisch, das von meinen Landsleuten verschuldete Menschheitsverbrechen in Odessa überdauert hatte, das erkannte ich erst zwischen 91 und 92. Dazu habe ich in Episode 2 etwas erzählt. Am Strand von Bugás erfuhr ich die Initialisierung, den Anfang meiner persönlichen Beschäftigung mit dem jüdischen, respektive jiddisch-sprachigen Erbe der Hafenstadt am Schwarzen Meer. – Übrigens, weil ich auf dieses Missverständnis mehrmals stieß: Das Wort „jiddisch“ ist nicht antisemitisch. Eigentlich das genaue Gegenteil.

Im Russischen heißt die Literatursprache vor allem osteuropäischer Juden „Idisch“. Bei der Aussprache dieses Sprachnamens ließ sich in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts bei manch einem ein verächtlicher Unterton raushören. Aber den erwartete ich nicht – und hörte ihn auch nicht – als ich mir Anno 1993 ein Herz fasste und die Dezhúrnaja, die Tagespförtnerin, des Literatúrnovo Muséja fragte, wer mir Informationen zu den jiddischen Büchern aus der Ausstellung geben könne. Dezhúrnye, im sowjetischen und postsowjetischen Alltag allgegenwärtig, kannten sich nicht immer mit Details aus. Diese Dezhúrnaja entpuppte sich als extrem kenntnisreich. „Zu Scholem Alejchem und Mendele Mojcher Sforim kann ich Ihnen nicht viel sagen, junger Mensch. Aber…“ – sie griff zur trubka, zum Telefonhörer, „wir haben da Forscher im Keller“. Diese vermeintlichen Kellerkinder rief sie an, bekam Antwort und wenige Minuten später wurde ich abgeholt.

(Musik)

Wer mich abholte, war kein Bücherwurm mit dicken Brillengläsern. Sondern eine sehr attraktive und junge Frau. Sie stellte sich mir als Lena vor, den Vatersnamen habe ich gerade nicht parat, und führte mich zu ihrer Vorgesetzten: zu Anna Aleksándrovna Misjuk. Hier ein O-Ton dieser wunderbaren Forscherin.

(Transkription demnächst verfügbar)

Na, alles verstanden? Ich damals schon. Und beim dritten Besuch sagte mir Anna Aleksándrovna, dass im Nebenzimmer eine junge Journalistin auf mich warte. Mein Interesse für jiddische Literatur in Odessa habe sich herumgesprochen und die Journalistin wolle diesen seltsamen jungen Mann aus Deutschland interviewen.
Ich weiß nicht, ob dieser Artikel irgendwann erschienen ist. Vielleicht waren meine Aussagen auch nur eine Übungsaufgabe für journalistischen Nachwuchs, das wäre nicht das einzige Mal gewesen.

Sicher ist dafür, dass ich durch Anna Aleksandrovna Kontakt zu zwei jiddischen Schriftstellern bekam und zu einem Bibliothekar, der bestimmt längst in die Ewigkeit gegangen ist, den ich aber auf jeden Fall für immer im Gedächtnis behalten werde: der große Viktor Simjónovitsch. Aber das ist schon Stoff für eine andere Podcast-Episode. Stay tuned.

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