Kategorien
Odessa

Episode 09: Im Waggon zur Weißen Stadt

Belgorod Dnjestrovskij – die Weiße Stadt am Dnjestr. Schon Episode 2 spielte in der Nähe. Aber ich sollte in späteren Jahren noch einige Male dahin fahren. Per Elektrítschka, was E-Lok-Zug bedeutet. Um eine dieser Fahrten geht es heute in Episode 9.

Gleisweiche

Belgorod Dnjestróvskij – die Weiße Stadt am Dnjestr. Schon Episode 2 spielte in der Nähe. Aber ich sollte in späteren Jahren noch einige Male dahin fahren. Per Elektrítschka, was E-Lok-Zug bedeutet. Um eine dieser Fahrten geht es heute in Episode 9.

Selten fiel mir die Zuordnung einer Odessa-Podcastepisode zu einem Jahr so schwer. Zwar ist die Anzahl der Fahrten an die Festungsstadt am Dnjestr überschaubar. Aber die Erinnerungen, eine intensiver als die andere, umfassen locker einen Zeitraum von 1991 bis 2008.

Jedenfalls hatte ich erfolgreich eine Fahrkarte zum Normalpreis erstanden. Das war zwischen 93 und den Nullerjahren keineswegs selbstverständlich. Seit Mitte des abschließenden Jahrzehnts des letzten Jahrhunderts gab es für vieles zwei Preise: Einheimischen-Standard und Touristenklasse. Wobei die Touristenklasse deutlich teurer war. Beispiel gefällig?
1995 befand sich an einer Straßenkreuzung auf Höhe der Deribasovskaja, der prominentesten Straße Odessas, ein kleiner Stand, wo eine alte Dame frischgebackene Pirozhkí anbot. Standardpreis 20.000 Kupon, was knapp 20 Pfennig entsprach. Für die Jüngeren: Das war einmal das, was heute Cent heißt, allerdings nur halb so viel wert.
Fast immer stand der Standardpreis auf einem kleinen Schild in der Auslage. 20.000 Kupon, klare Ansage, leicht zu erfüllen, keine Verhandlung nötig. Ich nahm da oft einen kleinen Imbiss zwischendurch, ich konnte es mir damals in jeder Hinsicht leisten, auch mit Blick auf die Figur. An jenem Frühsommertag fehlte aber das Preisschild und so fragte ich die Standbetreiberin: Po tschom? – Für wieviel? Die Antwort kam prompt auf Englisch: „One Dollar!“ Kleider machen eben Leute, in diesem Fall machte es meine c&a-Windjacke. Ich rechnete kurz nach: 20.000 Kupon gleich 20 Pfennig gleich ungefähr 10 US-Cent. Preis: 1 Dollar. Eins zu zehn, ein stolzer Kurs. Ich lehnte höflich und auf Russisch ab. Ich war damals des Russischen so weit mächtig, dass ich meine Entscheidung begründen konnte, ohne die Dame zu beleidigen.

Ohnehin darf ich behaupten, in Odessa nie jemand bewusst oder gar vorsätzlich beleidigt zu haben. So auch nicht im E-Zug nach Belgorod, wo ich ansonsten typisch deutschen Humor spielen ließ.

(Musik: Thema aus White Walls 1998/99 Trier)

Es muss doch 1993 gewesen sein. Später hatte ich eigentlich keinen Grund mehr, alleine nach Akerman zu fahren. – Akerman ist der alte Name der Festung am Dnjestr, nahe des heutigen Mini-Staates Transdnjistrien. Ich bin des Türkischen nicht mächtig, aber ich hörte und las mehrmals, dass Akerman „Weiße Burg“ bedeutet. Ziemlich glaubhaft, denn das russische Belgorod und das ukrainische Bilhorod bedeuten das Gleiche.
Unabhängig vom Ortsnamen und seiner Aussprache war die Festungsstadt immer ein beliebtes Ausflugsziel für Odessiten. Die einfach mal einen anderen Strand als den von Arkadija mit ihren Tüchern und Klappsesseln belegen wollten. Picknickkörbe und zusammenlegbare Holzsessel ließen sich per Elektritschka gut befördern. Ich hatte in E-Zügen, die aus dem Osten kamen, schon schwierigere Transporte erlebt. Da waren Ziegen dabei!

Keine Vierbeiner fuhren mit im Waggon, als ich diese Tour unternahm. Auf der ungepolsterten Holzbank mir gegenüber und neben mir hatte sich eine Familie platziert, die keine Vierbeiner mit sich führte. Jedenfalls nicht sichtbar und nicht in einem Stück. Nein, es waren ausschließlich Menschen. Und zwar solche, die zu mindestens drei verschiedenen Generationen gehörten und die sich im für mich sehr gut verständlichen Odessaer Russisch unterhielten.
Ich saß am Gang, rechterhand neben mir eine Frau aus der mittleren Generation. Mir genau gegenüber hatte ein vielleicht fünfzehnjähriges Mädchen Platz genommen, ein Backfisch, wie mein Opa gesagt hätte. Ohne das als abwertend zu verstehen.

Auch mir lag es fern, der jungen Frau zu nahe zu treten. Ich fand es lustig, als sie das Bündel Badetücher, das man ihr übergeben hatte, urplötzlich in die Arme nahm und ein virtuelles Baby wiegte. Eine stummes Wiegelied mit entsprechendem Blick inklusive. Allerliebst.
Aber das konnte ich ja schlecht mit einem belustigten Lächeln sagen. Wer hätte mich verstanden?
Also machte ich es anders. Ich setzte eine beiläufig interessierte Miene auf und fragte betont neutral: Uzhé nado uprazhnjátsja? – Gibt es schon Übungsbedarf?
Für einen winzigen Moment herrschte Stille. Dann wurde das Gesicht des Mädchens puterrot, um dann einem schallenden Lachen Raum zu geben. In das die Anderen mit einstimmten. Der mutmaßlich Älteste der Sommerfrische-Gesellschaft fragte mich, noch immer prustend, woher ich komme. Ich habe einen sehr eigenwilligen Akzent. Ich gab mich als Deutschen zu erkennen und der besagte ältere Herr sagte darauf der blutjungen Noch-lange-nicht-Mama, dass sie soeben Bekanntschaft mit typisch-deutschem Humor gemacht habe. Geradeaus und staubtrocken.

Ich bin mir jetzt doch sicher, dass diese Fahrt nach Belgorod Dnjestrovskij anno 1993 gewesen sein muss. Denn am Zielort erzählte ich die Geschichte als Anekdót meiner damaligen Herzdame. Die den Bericht der komischen Begebenheit mit typischem Augenaufschlag quittierte. Aber, mit Verlaub, sie wurde belustigte Zeugin, als ich mir mit viel mehr humoristischem Wumms einen deutschen Landsmann zur Brust nahm. „Bitte mach noch weiter!“ forderte sie auf Russisch von mir. Kannst Du haben, dorogája. Demnächst hier im Podcast. Stay tuned.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert