Gar nicht harmlos, so eine Fahrt von Odessa nach Ivanofrankivsk. Anno 1995 ging der Chef der Caritas Odessa noch das geringste Risiko ein. Für seine zwei Begleiter, einen polnischen Salesianer und mich, hätte das gefährlich werden können, brandgefährlich.
Nein, rauchende Colts mussten Vater Ignacy und ich nicht fürchten. Wir fuhren mit dem Zug durch Transdnistrien, nicht mit der Postkutsche durch den Wilden Westen. Berittene Banditen Fehlanzeige. Und außerdem war es nur eine kurze Teilstrecke, dann waren wieder auf ukrainischem Staatsgebiet. Wo Ordnung herrschte. Ein Stück weit jedenfalls damals.
Problematisch waren die zwei Grenzübertritte. Da konnten Grenzer in den Zug kommen und die Pässe sehen wollen. Ausländer, so Viktor Tichónovitsch, dürfen dann gleich das Portemonnaie auspacken und leeren. Wenn wir Glück hätten. So schärfte er mir ein: „Wenn Kontrolleure kommen, sprichst du kein einziges Wort! Nur ich rede! Ukrainisch.“
Es kamen keine Kontrolleure. Viktor Tichónovitsch konnte sich sein Ukrainisch sparen. Bis wir das erste Mal umsteigen und neue Fahrkarten kaufen mussten. Auch hier wies er mich wieder an, die Klappe zu halten. „Dein Akzent würde dich verraten und die Karten für uns teurer machen.“ Ich gehorchte. Hörte aber auch zu, als mein Odessaer Ehrenamts-Chef sein laut eigenem Bekunden perfektes Ukrainisch auf die Dame am Fahrkartenschalter los ließ. Die grinste breit und fragte Viktor Tichónovitsch in lupenreinem Russisch: „Sie kommen aus Odessa, nicht wahr?“ – In Odessa ist nicht nur das Russisch ein Besonderes.
Hintergrund ist, dass Odessa von Anfang an eine Vielvölkerstadt ist. Russen, Italiener, Deutsche, Aschkenasim, das heißt osteuropäische Juden, Griechen, Franzosen und sogar Engländer – sie alle ließ Zarin Katharina sich hier ansiedeln. Wo eine Stadt nicht aus dem Sumpf, aber aus dem Steppenboden gestampft werden sollte. Nur Osmanen waren schon vorher in der Gegend militärisch vertreten. In Akerman, der Weißen Festungsstadt auf dem Liman.
Mitte der 90er war der Selfmade-Warlord P. noch ein kleines Ex-KGB-Licht. In den Fernsehnachrichten spielte noch Boris Jeltsin die Hauptrolle. Ein Redesatz bleibt mir im Gedächtnis und ich wünschte, diese gelallte Aussage wäre wahr geblieben: Dass es nie wieder Krieg gebe.
Zurück in die alte Zeit, die auch nicht wirklich gut war. Banditen, Gauner, Taschendiebe an jeder Ecke. Und manch einer wurde auf Odessas nächtlichen Straßen halb tot oder auch ganz tot geschlagen. Ein Sohn meines Hauswirts arbeitete im Wechsel mit seiner frisch Angetrauten nachts in einem Kiosk. Bis sich Raubüberfälle auf ebensolche Läden häuften, bei denen angeblich auch Schusswaffen zum Einsatz kamen. Laut Hauswirt Valérij sei im Fall des Falles eine Pistole leicht zu bekommen. Und Petja, sein Sohn, gab zu Protokoll, seine Armeewaffe verbotenerweise behalten zu haben. Gesehen habe ich sie nie. Den Verkäufer-Job gaben Petja und Vivi jedenfalls auf.
Beide waren zwar keine Kinder mehr, aber jünger als ich. So verwunderte es mich wenig, dass sie mich um ein Mitbringsel von der Reise in die Westukraine baten. Zum Beispiel Zigaretten. Die standen bei meiner Gastfamilie, bei meinen Mitbewohnerinnen und am ehemaligen Arbeitsort, dem Kiosk, hoch im Kurs.
Auf der Rückreise dachte ich gerade noch rechtzeitig daran und kaufte eine Packung der Marke „Risk“. Zu Deutsch: Risiko. Auf der Packung stand außerdem: „Tabak vierter Qualität. Das Rauchen verkürzt das Leben.“
Die Beschenkten schüttelten den Kopf, als ich die filterlosen Sargnägel originalverpackt übergab. Die Packung blieb unberührt auf dem Küchentisch. Am nächsten Morgen lag sie da immer noch. Aber leer. Das muss die Miliz gewesen sein, die sechsbeinige vom Tarakany-Räumkommando. Das scheut kein Risiko. Kakerlaken haben keine Angst, dafür jede Menge Spaß.
Kribbel krabbel husch sind sie – im Gesicht. Matsch gewonnen.