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1994

Episode 19: Torstik der Milchmann

Auch im vor-hochkapitalistischen Odessa hatte es Vorzüge, Bester Kunde zu sein. A-Kunde, würden Marketing-Experten sagen.

Zweifelhaftes Getränk genießender Autor
Ahhh, herrlich, diese Mikroben. 🙂

„Heute lieber nicht Rjazhenka!“ – Das bekam ich an einem herbstlichen Morgen zu hören. Auch im vor-hochkapitalistischen Odessa hatte es Vorzüge, Bester Kunde zu sein.

„Heute lieber nicht Rjazhenka!“ – Das bekam ich an einem herbstlichen Morgen zu hören. Auch im vor-hochkapitalistischen Odessa hatte es Vorzüge, „Bester Kunde“ zu sein.

A-Kunde, würden Marketing-Experten sagen. In gewisser Weise war ich damals mit derartigen Kategorien vertraut. Das kommt davon, wenn der eigene Papa lange Zeit Verkaufsleiter war und dann selbständiger Handelsvertreter ist. Als er von meinen ersten Kontakten aus der frisch eigenständigen Ukraine hörte, leuchteten die D-Mark-Zeichen in seinen Augen.

Die gab es bekanntlich nicht. Die D-Mark-Zeichen meine ich. Im Odessa der 90er Jahre galt die bundesdeutsche Währung nicht viel. Es war schwer, sie in Kupon zu tauschen, jene Vorgänger-Währung der Hrivna. Auf der Straße mit Euler, Droste-Hülshoff und Clara Schumann zu bezahlen – konnte man vergessen. Nur Dollars waren willkommen, wenn die Kupon-Scheine wieder einmal Mangelware wurden.

In meinem bevorzugten Milch-Laden waren nicht einmal US-Bucks gern gesehen. Für einen Dollar hätte man fast eine halbe Palette abnehmen können. Na gut, wäre für mich vielleicht eine Option gewesen, denn ich war Großabnehmer. Jeden Morgen kam ich vorbei und kaufte ein. Für mich – und gerne auch mal für den ganzen Haushalt. Wenn es nur um mich ging, hörte sich das für die Verkäuferinnen – es waren immer dieselben zwei Damen – ungefähr so an:

Vier Rhazhenka, drei Kefír und zwei halbe Liter frische Milch.

Selbstredend auf Russisch: Tschetýrje rhazhenki, tri kefíra i dve butýlki svezhovo moloká, pozhálujsta. Ging immer. Fast immer. Denn auch wenn der Preis stets gleich blieb und es nicht einmal für Stammkunden wie mich Rabatt gab – als „bester Kunde“, übersetzter O-Ton, genoss ich unter bestimmten Umständen besondere Konditionen.

(Musik: A metsíe)

An jenem herbstlichen Morgen zeigte sich mein Status besonders deutlich. Nachdem ich freundlich begrüßt worden war, im Odessa der Neunziger alles andere als selbstverständlich, und als ich meine Einkaufsliste abgespult hatte, schüttelte die Verkäuferin mit sichtbarem Bedauern den Kopf. „Die Rhjazhenka ist heute nicht gut. Sie schäumt, wenn man die Flasche aufmacht.“

Drama Baby, Drama! Bis heute ist unverfälschte Rhjazhenka mein absoluter Favorit bei Milcherzeugnissen.
Rhjazhenka ist auf Brot bei leichter Erwärmung über einige Stunden von Bakterien vergorene Milch. Charakteristisch ist die hellbräunliche Farbe. Die keinesfalls durch Zugabe von Karamell alias Zuckercouleur zustandekommen darf! Dann ist es keine Rjazhenka mehr, sondern Pantsche. Auch ultrahocherhitzt darf sie nicht werden, dann ist sie tot. Es lebe das Mikrobiom! Erst in der Flasche, dann im zweiten Gehirn. Vulgo Darm. Beides, Mikroben wie Gedärm, wird gerne für Pfui erklärt und ist doch lebenswichtig.

Okay, ohne Rjazhenka leben, das geht. An jenem Morgen musste es gehen. Aber die Fachverkäuferinnen wussten Rat, als sie meine mutmaßlich verzweifelte Miene sahen. „Nicht schlimm, junger Mensch, dafür ist der Kefír heute besonders gut! Ganz frisch! Nehmen Sie davon einfach mehr.“

Kefír, dieses wunderbare Zeug! Nicht so mild wie Rjazhenka, sprudelig – was ich damals nicht so gerne mochte. Dafür ohne Aufwand in jedem Haushalt herstellbar. Zusatzfreie Milch und eine Kultur aus guter Quelle vorausgesetzt.

Meine Berliner Kultur musste ich kürzlich verwerfen, sie ist an den Folgen eines Stromausfalls zugrunde gegangen. Gesucht wird: Kefír-Kultur, ledig, gerne jung, bitte ohne Tabaknote oder sonstigen Rauch. Aus gutem friedliebendem Haus. Wenn wild bewegt, dann durch Milchsäure-Gärung. Das ist okay. Pulverdampf ist es nicht, auch nicht der in wuterfüllten Worten. Niemals. Peace now!

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