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1992

Episode 22: Lass uns abhängen, Schatz

Volkssport Nummer Eins im Odessa der 90er – Schimpfen. Ab und zu unter Gefahr der spontanen Eheschließung.

Auch im 21. Jahrhundert gab es sie noch in Odessa: Oberleitungen für Busse

Volkssport Nummer Eins im Odessa der 90er – Schimpfen. Ab und zu unter Gefahr der spontanen Eheschließung.

Viele Jahre nach meinem längsten Odessa-Aufenthalt hörte ich aus dem Mund eines meiner Studenten in München: „Birgit, kann ich Dich heiraten?“ Ähnliche Empfindungen wie er hatte ich ‘92, wie wir Boomer sagen, in einem Oberleitungs- oder Trolley-Bus.

Im Russischen wird die Bezeichnung eines solchen kabelgebundenen Vehikels etwas anders betont und den allgemeinen russischen Ausspracheregeln folgend anders vokalisiert: Tralléjbuss. So auch nachzuhören im Original des folgenden Klavier-Stücks, „Polnotschnyj trolléjbus“ von Bulát Okudzháva.

(Musik: Polnótschnyj trolléybus)

In Moskau, wo Bulat Okuzhava, einer der größten sowjetischen Barden, lebte und wirkte, bin ich nie mit einem Oberleitungsbus, einem trolléjbus, gefahren. Nur ein paar Mal mit der Metro.

Die, also eine U-Bahn, gab es in Odessa, meiner Herzensheimat, noch nie. Ich kann nicht einschätzen, ob U-Bahnstationen bei Luftalarm für die Odessiten eine Hilfe wären. Aber Oberleitungsbusse sind es definitiv nicht. Im Gegenteil.

Diese öffentlichen Verkehrsmittel fahren grundsätzlich oberirdisch, sind entsprechend leichte Ziele für Bomber und Lenkwaffen, waren in den Neunzigern regelmäßig überfüllt und – extrem fehleranfällig. Als Nicht-Techniker muss ich hier ein klein wenig ausholen.

Also: Oberleitungsbusse brauchen Strom aus Oberleitungen. Die Leitungen erinnern an die Drähte, die auch heute noch im ländlichen Raum über den Bahngleisen hängen. Das Problem bei Bussen: Sie fahren nicht auf Gleisen. Ihre Fahrbahn ist nicht speziell für sie reserviert. Sie teilen sich die ganz normale Straße mit PKW, LKW und benzinbetriebenen Fahrzeugen aller Art.

Radfahrer habe ich im Odessa der 90er nur sehr vereinzelt gesehen. Beziehungsweise gehört. Denn einer brummte mir einmal zu: „Ne nado kollidírovatj“ – zu Deutsch: Wir müssen nicht zusammenstoßen.

Wer damals einen Trolleybus fuhr, musste Kollisionen nicht fürchten. Im Zweifel hätte der Bus den Kampf gewonnen. Aber wenn ein Oberleitungsbus urplötzlich stehen blieb, dann…

Tja, dann musste der Fahrer aussteigen, fast immer auf‘s Dach steigen, die Stromabnehmer austauschen, letztere wieder mit der Oberleitung verbinden, zrrrrr. Und wieder ins Führerhaus, Gas, äh, Strom geben, und das beste hoffen. Sonst: Da capo al fine. Das Gleiche nochmal bis zum Schluss. In Unmusikalisch, dafür mit derben Flüchen auf die sch–lechte Technik, kuljtúra dá jestj! Auf ein Neues.

Im Odessa der 90er, als es noch verhältnismäßig wenig Privatautos gab, keine Tragödie. Aber doch zu Herzen gehend. Die meisten Oberleitungsbusse zwischen der Innenstadt und dem Obelisken, meiner Stammstrecke ’92, wurden von Frauen gefahren. Von jungen Frauen. Und ich war selber jung. Ich erinnere mich an eine devuschka, die ihren Bus virtuos fuhr und gleich drei technische Probleme nacheinander behob. Unter lautem Fluchen und echt odessaischem Schimpfen. Rasreschájete zhenítsja, devuschka? Takája trolléjbusnaja ljubóvj. Übersetzt: Erlauben Sie mir, Sie zu heiraten, junge Frau? So ist Oberleitungsliebe. –    Oder so auf Neudeutsch: Lass uns abhängen, Schatz.

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