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1994

Episode 27 Teil II

Ich finde es nach wie vor schade, dass wir damals im Ivrith-Kurs keine Lieder gesungen haben. Das hätte vieles leichter gemacht.

Ivrith-Bingo. Das Wort links oben kam im Diktat leider nicht vor. In der Episode spielt es eine wichtige Rolle. 🙂

Was bisher geschah… Im Bejt Ulpán, dem Jüdischen Kultur- und Bildungszentrum Odessa Mitte der 90er Jahre, hatte ich am Schwarzen Brett ein Kursangebot gesehen: Ivrith für Anfänger.

Der Jiddisch schreibende, aber auch Neuhebräisch sprechende Schriftsteller Aleksándr Abrámovitsch Bejderman meinte, er könne mir eine Teilnahme ermöglichen, um seine Gedichte besser zu verstehen. Vom Dichter gesagt, vom Dichter getan: Am Abend des 3. Oktober 1994, einem Montag, saß ich zum ersten Mal seit zig Jahren wieder in einer klassischen Schulbank. Und erwartete gespannt unsere Neuhebräisch-Lehrerin.

Die traf mit leichter Verspätung ein. Um 17 Uhr, als wir uns in einem ehemaligen Schulklassenzimmer versammelten, war die Sonne bereits untergegangen. Die Raumbeleuchtung funktionierte, die öffentlichen Verkehrsmittel hielten es so wie gehabt: Kommste nicht planmäßig, kommste eben später. Wer weiß, wo unsere Lehrerin in den Trolley-Bus eingestiegen war.
Jedenfalls kam sie jetzt bei uns ins Klassenzimmer: Eine freundliche, lebhafte, wunderschöne junge Frau. Die sich sogleich in sehr einfachem Russisch als Ajéleth vorstellte – den Nachnamen ließ sie weg. Dafür gab sie uns herzlich lächelnd eine Liste mit unseren Namen. Die Namen der am Sprachkurs Teilnehmenden waren sowohl in kyrillischen als auch in hebräischen Buchstaben zu lesen. In beiden Versionen fehlte mein Vorname, der Nachname stand an seiner Stelle. Ich setzte trotzdem meine Unterschrift daneben.
In der Zwischenzeit hatte Ajeleth einen Kassetten-Player mit klangstarker Box angeschlossen, die Elektrizität funktionierte ja, wie ich schon sagte. Anno ‘94 in Odessa keine Selbstverständlichkeit. Vom Band kam dann die Kurs-Einführung – in russischer Sprache. Die Teilnehmenden wurden darauf vorbereitet, dass der komplette Sprachkurs einsprachig sei. Neuhebräisch. Und genau so war es.

Ajéleth verstand etwas Russisch und als sie Odessa nach einem Monat wieder verließ, hatte sie auch etwas Russisch Sprechen gelernt. Aber jetzt war sie noch ganz frisch in der Hafenstadt am Schwarzen Meer. Wie sie uns mit wenigen hebräischen Worten und sehr viel Pantomime erzählte, kam sie aus einem Kibbuz, der auf die Produktion von Wein spezialisiert war. Zu meinen ersten neuhebräischen Wörtern gehörte daher „jaïn“. Was Wein bedeutet. So, und jetzt weiß die Gründerin der Journalistenakademie in München auch endlich, woher die Weintraube kommt, die mein CMS Ajéleth als Logo schmückt.

Ajéleths bühnenreife Pantomime steht mir lebhaft vor Augen. Und die ersten Sätze, die sie uns beibrachte, bleiben mir deutlich im Ohr. – „Ma schimchá?“ fragte sie mich. Wie heißt du? Und meine Antwort, die für Ratlosigkeit bei meiner Banknachbarin sorgte: „Sch’mi T(h)orsten.“
Meine Banknachbarin sollte in den nächsten anderthalb Stunden noch mehrmals ratlos sein. Und sie fragte dann stets mich: Was hat sie gesagt? Was meint sie? Wie heißt das auf Russisch?

Die Dame war Mitte 40, also sicher sowjetisch sozialisiert. Und auch wenn ihr die Familiengeschichte offenbar eine Übersiedlung nach Israel ermöglichte: Sie hatte keine Ahnung. Das meine ich nicht despektierlich, sondern nüchtern beschreibend. Schon zwei Sitzungen später zeigte sich: Die Frau war mit ihrer Ahnungslosigkeit das Gegenteil von alleine.
Ich war der einzige von knapp 20 Teilnehmenden, der nicht nach Israel übersiedeln wollte. Und ich war der einzige, der wusste, was Schabáth, Kaschrúth und Thanách bedeuten.

Ajéleth sah sich nicht als Religionslehrerin. Sie versuchte aber schon zu erklären, welche Rolle jüdische Religion im israelischen Alltag spielte. Und fuhr damit mehr oder weniger vor die Wand. Einen irgendwie religiös geprägten Alltag konnten sich mindestens die älteren ehemalige Sowjetbürger nicht vorstellen. Ich konnte es, ich Caritas-Volontär. Und ich war es dann auch, der Ajéleth als einziger – auf Englisch – andeutungsweise zu erklären vermochte, was es mit dem russischen Namen des Sonntags auf sich hat. Der bedeutet wörtlich: Auferstehung.

Heute, am 3. Dezember 2023, ist Sonntag und der erste Advent. Advent – auch ein Fremdwort für viele Deutschsprachige. Einfache Übersetzung: Ankunft. Gemeint ist die Hoffnung auf die Ankunft von jemand Besonderem. In meiner Lieblingssprache, also Musik, ausgedrückt…

Nein, stop. Die musikalische Tonkost muss diesmal noch etwas warten. Ich finde es nach wie vor schade, dass wir damals im Ivrith-Kurs keine Lieder gesungen haben. Das hätte vieles leichter gemacht. Ein Studienfreund, den ich ein halbes Jahrzehnt später kennenlernte, brachte sich selbst über Lieder Neu-Griechisch bei. Natürlich nicht nur über Rembetiko, aber durchaus maßgeblich damit. Schließlich kommen hier Aussprache, Sprach-Rhythmus, Mentalität und einprägsame Melodie zusammen. Im Lehrbuch „Scheath h-Ivríth“ kommt der erste Liedtext auf Seite 199 vor. Das Buch hat 199 Seiten. Bisschen spät, oder?

[Musik: Ha thikváh]

Wenigstens ist dieses Lied weltbekannt. Und auch wenn es gerade heute viel Widerspruch und sehr viel Schlimmeres provoziert, eventuell auch enge Freunde von mir verprellt: Mindestens sein Titel „ha thikvá“ – „Die Hoffnung“ – bleibt für mich eine Verpflichtung zur Solidarität. Und so beende ich den zweiten Teil der 27. Episode mit einem Lied, das eine Sehnsucht beschreibt, die von manchen mit Gewalt verfolgt wird, die ich klar verurteile. Aber Grausamkeit und Menschenverachtung haben nur ganz wenige im Sinn, bin ich überzeugt. Für die Dame damals in der alten Schulbank glaube ich, mich verbürgen zu können. Und ich hoffe, dass sie in Erez Israel eine neue Heimat gefunden hat. Schalom!

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