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1994

Episode 28, Teil 2

In memoriam Sabine Katz. Sie lebe! – Text: Thorsten Steinhoff, Berlin. Gelesen von Katrin Hochecker, München

Dieser Episodenteil ist dem Andenken von Sabine Katz gewidmet.

Bayerischer Krampus 1994 in Odessa – bei der Kostümprobe

Es war einmal… – unsere Lehrerin sagte uns, dass Märchen in Deutschland immer so anfangen.

Ich ging im Süden Odessas zur Schule, damals in den 90ern. In die Schule Nummer 25.

An unserer Schule konnten wir Deutsch lernen. Wie sonst eigentlich nur an der Schule Nummer 80 im Stadtzentrum. Wir wohnten in einer grauen und ziemlich traurigen Trabanten-Stadt. Mama tat alles, um es uns Kindern schön zu machen, mir und meinen zwei Brüdern. Aber nur ich hatte das Glück, an der Schule Nummer 25 etwas Besonderes zu erleben.

Es war ein Freitag. Das weiß ich noch so genau, weil wir uns auf das Wochenende freuten, wir Kinder der zweiten Klasse. Unsere Lehrerin, eine Studentin aus Deutschland, wirkte irgendwie aufgeregt. Nicht so, als ob sie Angst vor etwas hätte. Sie schien sich eher auf etwas zu freuen. Sie strahlte noch mehr als sonst, sprach aber auch schneller. Ich konnte schon ziemlich gut Deutsch. Aber trotzdem hatte ich Probleme, der Erzählung unserer Lehrerin zu folgen. Sie berichtete von einem Weihnachtsbrauch in Deutschland. Dass da ein Nikolaus zu Kindern nach Hause komme, mit Geschenken für liebe Kinder. (hier beim Sprechen lächeln!) Die wir natürlich alle waren. Aber von einem Nikolaus hatte wenigstens noch nie gehört.
Unsere Lehrerin beschrieb ihn so: Er trage einen roten Mantel, einen weißen Bart und auf dem Kopf eine rote Mütze. Einige von uns riefen: Das ist doch dēduschka màrōz – Väterchen Frost. Mit dem Schneeflöckchen Snjegūrotschka, das den Kindern die Geschenke gibt. Ich hatte noch nie Geschenke von einer Schneeflocke bekommen, aber den seltsamen Schlittenfahrer hatte ich schon in Trickfilmen gesehen. – Unsere Lehrerin schüttelte den Kopf, nur ganz leicht. „Nein, Kinder“ sagte sie auf Deutsch, „der Nikolaus ist nicht Väterchen Frost. Einen Nikolaus hat es wirklich gegeben. Auch wenn die Sache mit dem Mantel und seinen Begleitern erfunden ist. Bei uns in Deutschland begleitet ihn oft ein Krampus und manchmal ein Engel.“

Das Wort „Engel“ kannten wir, das russische Wort klingt ganz ähnlich. Aber Krampus? Was sollte das sein? Bevor wir die Frage stellen konnten, pochte jemand von außen an die Tür unseres Klassenzimmers. Unsere Lehrerin rief munter: „Herein!“ – Und herein kamen sie: Drei Gestalten. Ein junger Mann mit rotem Mantel, spitzer roter Mütze, auf der vorne ein Kreuz zu sehen war, und mit einem langen Stab in seiner Hand. Zusammen mit ihm eine schöne Frau, die ein bisschen wie Snjegūrotschka aussah. Aber sie war nicht blond, sondern fast schwarzhaarig und hatte auch keine Locken. Sie trug einen großen Sack, in dem irgendetwas durcheinanderpurzelte. Und dann sprang noch ein wild gekleideter Mann mit Pelzmütze in das Klassenzimmer. Mitten rein und laut rufend, ein breites Zweigbündel schwingend. Das musste wohl ein Krampus sein. Und wir erkannten ihn sofort: Unseren zweiten deutschen Aushilfslehrer Jörg.

[Musik]

Ein paar Jungs gingen lachend auf den Unhold los. Ich glaube nicht, dass ihm die Attacken wirklich weh taten, aber ich hätte mir das nicht gefallen lassen!

Der Nikolaus hielt sich zurück. Ich dachte mir: Warum schlägt er nicht einfach mit dem Stock auf den Fußboden? Aber das wollte er offenbar nicht.
Nachdem Ruhe eingekehrt war, erzählte er uns, wer „der heilige Nikolaus“ gewesen war. Zuerst auf Deutsch, dann auf Russisch. Nikolaus war Bischof – Russisch: Jepískop – von Myra gewesen und hatte sich um die Menschen dieser Stadt gekümmert, als sie Not litten.
Nach der Erzählung griffen der Jepískop und der weiße Engel immer wieder tief in den geöffneten Jute-Sack und holten für jedes Kind etwas heraus: Äpfel, Nüsse und Orangen.

Da war ein Mädchen, an dessen Namen ich mich nicht erinnere. Sie wirkte traurig und sah an diesem Tag krank aus. Als der Nikolaus ihr etwas gab, sah sie ihn wortlos an. Heute glaube ich, er spürte in dem Augenblick, wer der Bischof im vierten Jahrhundert wirklich gewesen war.

Ob es Engel wirklich gibt, wollte die schöne Frau mit ihren weißen Flügeln uns nicht sagen. Sie sei ja eigentlich auch das Schneeflöckchen, meinte sie lachend auf Russisch. Und Schneeflocken gebe es! Wenn auch nicht immer. An diesem Freitag fiel kein Schnee in Odessa.

Der Gong rief zur Pause. Die drei Besucher verabschiedeten sich. Der Krampus freute sich auf die beiden ersten Klassen, in die der Nikolaus mit seinen Helfern jetzt ging. Die Kinder da würden ihn nicht als Lehrer erkennen und ungeschoren lassen. Hoffte er.

In der nächsten Woche hörten wir Kinder von unserem Hausmeister, wie der Nikolaus und sein Schneeflöckchen-Engel beim Umkleiden in einer Besenkammer von ein paar Kindern beinahe so behandelt worden wären wie der Krampus in unserer Klasse. Aber der Engel hatte das verhindert. Mit Worten, sagte der Hausmeister, hart wie ein Eisblock. – Bei uns war die Engelsfrau so sanft gewesen wie eine Schneeflocke. Und fast wie eine echte Schneeflocke hatte sie sich verflüchtigt. Nur auf eigene Weise: Sie war in die Straßenbahn gestiegen, zusammen mit dem Nikolaus, dem ersten und einzigen meines bisherigen Lebens.

Schneeflocken sah ich seitdem viele. Jetzt gerade fängt es an zu schneien. Da ist eine schöne helle Schneeflocke! Steig wieder hoch hinauf, Snegūrotschka, w-nebeßā! In die Himmel.

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