Das Jahr 2023 geht heute zu Ende, das Jahr 5784 dauert noch bis zum 2. Oktober. Des neuen Jahres nach christlicher Zeitrechnung. Anno Domini 1995 brachte mich der jüdische Kalender ordentlich ins Trudeln.
Dabei war ich mit Lehrmaterial bestens ausgestattet. Ein besonders eng verbundener Studienfreund, der selbst länger im Ausland gelebt hatte, schenkte mir zur Abreise nach Odessa einen jüdischen Kalender. Ein Buch, das für Menschen wie mich gemacht war, die nicht mit jüdischer Kultur aufgewachsen sind, aber lebhaftes Interesse daran haben.
Ischtwan, wie ihn eine russische Dozentin nannte, half mir auch von Deutschland aus, als ich zu Ostern ’95 den Wunsch fasste, nach Israel zu reisen. Da war der Sprachkurs im Bejt Ulpan schon lange vorbei. Die beiden Lehrerinnen waren nur für einen Monat nach Odessa gekommen. Ich erwähnte zuletzt, dass die letzte Stunde bei unserer Morāh Ajéleth sehr, sehr traurig war. Vor allem natürlich für uns Lernende. Aber auch unserer Morāh ging der Abschied nah.
Vielleicht hatte sie sich ein wenig in die Odessíty verliebt. So wie ich vier Jahre zuvor. Ich war beim ersten Besuch auch nur einen Monat dort gewesen. Allerdings kam ich dann jährlich im Herbst wieder. Ob Ajéleth das auch so hielt, weiß ich nicht. Im Herbst und Winter 1995 war ich längst wieder in Regensburg. Und häufiger in Berlin, aber das ist eine andere Geschichte.
Also zurück nach Odessa, ins Jüdische Kulturzentrum. Obwohl sich niemand von den auswanderungswilligen Ivrith-Newbies fit fühlte, in Israel munter Konversation zu treiben, gab es keine Kurs-Fortsetzung. Es gab schlicht keine muttersprachlichen Hebräisch-Lehrkräfte. Und Niemand Neues wurde aus Israel geschickt.
Vielleicht hing das mit einer Begebenheit zusammen, die bei einer Sitzung Ajéleths stets gute Laune verdüsterte.
Sie hatte gerade angefangen, die neuen Wörter der letzten Stunde mit uns zu wiederholen, voller ansteckender Begeisterung, wie immer. Da ging die Tür auf und eine lächelnde junge Frau kam herein. Sie grüßte uns Lernende auf Russisch und sagte dann etwas auf Neu-Hebräisch zu Ajéleth. Die reagierte nicht gerade begeistert, blieb aber gelassen und setzte sich lässig auf einen Tisch an der Seite des Kursraums.
Die Dame fing an zu reden. Und sie redete. Und redete. Und redete noch weiter. Alles auf Russich. Sie arbeitete für die Auswanderungsstelle, die im Bejt Ulpan ihr Büro hatte. Mutmaßlich finanzierte diese Einrichtung auch die Neuhebräisch-Sprachkurse.
Die Informations-Rede verbrauchte praktisch die gesamte Kurszeit. Ärgerlich für unsere Lehrerin, sie war sichtlich not amused. So richtig düster wurde ihr Gesichtsausdruck aber erst, als die junge Frau so etwas sagte wie: „Es ist ja schön, dass Sie alle Ivrith lernen wollen. Aber Sie brauchen das gar nicht! In Israel leben so viele Odessiten – mit denen können Sie sich jederzeit unterhalten und sich von ihnen helfen lassen, wenn das nötig ist.“
Ich zog wahrscheinlich die Stirn kraus. Ajeleths Stirn: Stürmische See voraus. Aber sie hielt den Mund. Später vielleicht nicht? – Es war schon seltsam, dass ihr Flieger nach Hause eine Woche vor dem Plan abhob. Wuschhhhh… – oder was?
Immerhin: Bei der letzten Unterrichtsstunde gab unsere liebe Morāh jedem von uns einen papierenen Flieger mit. Kein Papierflieger, wohlgemerkt. Sondern eine Phantasie-Maschine, schön pummelig, mit dicken kurzen Tragflächen, sehr runder Nase, voll das Kindchen-Schema. Und definitiv nicht flugfähig. Darauf geschrieben hatte Ajéleth: …
Ach, jetzt machen wir erstmal Musik.
[ Musik: Shalóm khaverím, gespielt für meine Nichte, die das Lied in der Schule lernte ]
Verflixt, ich wusste es! Wenn einer eine Reise tut, dann wird er was vergessen. Ich habe vergessen, ein Bild von der Papiermaschine zu machen, bevor ich über die Feiertage weg fuhr. Deswegen ist das Titelbild der letzten Episode 2024 auch nur eine kindlich anmutende Handzeichnung. Ich werde im Transkript – wie immer zum Nachlesen unter podcast.lautwert.de – die Abbildung nachreichen. Versprochen.
Meiner Meinung nach stand auf der Maschine „Lehithraóth b’Israél“ – zu Deutsch: Auf Wiedersehen in Israel. Nochmal zur Erinnerung: Ich war der einzige im Kurs, der nicht nach Israel übersiedeln wollte. Aber dahin reisen? Wollte ich irgendwann schon.
Rund ein halbes Jahr später war es so weit. Mit vereinten Kräften brachten sie mich ins Heilige Land: Ischtwan, indem er mit der Israelischen Botschaft in Deutschland telefonierte, die polnischen Salesianer-Patres mit einem Empfehlungsschreiben nach Bethlehem, die russische Orthodoxie mit dem nassesten aller Reisesegen. Und das Bejt Ulpan organisierte…
Na, das erzähle ich im nächsten Jahr. Im Jahre des Herrn 2024. Dann haben wir immer noch 5784. Und Frieden?
Lehíthraoth, chaverím. Ve schalóm. Schalóm lechól!