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1995

Episode 34: Schrecklicher Tee

Auf dem ehemaligen Kolchosen-Markt Privōz gab es Mitte der Neunziger fast alles: Schlachtwarmes Fleisch, frische und erbärmlich stinkende Fische, zart duftenden Landhonig und – alle nötigen Zutaten für Uzhāssnyj Tschaj, schrecklichen Tee.

Tee-Service aus Odessa in Berlin Neukölln
Tee-Service aus Odessa in Berlin Neukölln 2024

Auf dem ehemaligen Kolchosen-Markt Privōz gab es Mitte der Neunziger fast alles: Schlachtwarmes Fleisch, frische und erbärmlich stinkende Fische, zart duftenden Landhonig und – alle nötigen Zutaten für Uzhāssnyj Tschaj, schrecklichen Tee.

Bevor ich nach Odessa kam, war ich in Regensburg zum Tee-Liebhaber geworden. Hinter beidem, der Liebe zum gepflegten Zeremoniegetränk und der Freude am damals in Odessa mit lebendiger Eigenart gesprochenen Russisch, steckte übrigens ein und dieselbe Person. Ich werde Ischtwan bestimmt eine der nächsten Episoden widmen.

Für diesmal möge es genügen, dass 1994 unsere letzte gemeinsame Tee-Errungenschaft Yogi-Tee war. – Den gibt’s heute noch. Einfach mal beim Naturkosthändler des Vertrauens ins Tee-Regal gucken, dann fallen die farbigen und dezent geschmückten Packungen schnell ins Auge. Heute gibt es ein reiches Sortiment verschiedener Mischungen dieses Gewürztees. Damals gab es nur eine einzige Sorte, die eine kleine indische Firma aus Hamburg herstellte beziehungsweise vertrieb.
Wie in Deutschland vorgeschrieben, standen alle Zutaten auf der Außenverpackung. Natürlich ohne Mengenangaben, aber der bis heute geltenden Regel folgend: Was vorne steht, ist mehr drin.

Die Anzahl der Zutaten für klassischen Yogi-Tee war überschaubar. Fünf. Ich hatte Zeit genug, mir die Magischen Fünf zu merken, bevor ich nach Odessa reiste. Und Schwarzen Tee, im Yogi-Tee als sechste Zutat enthalten, gab’s da sowieso.

Wer einmal in Osteuropa unterwegs oder zu Gast war, weiß, welch große Rolle Schwarzer Tee bei unseren östlichen Nachbarn spielt. Je weiter östlich, umso mehr.
Kein russischer Haushalt ohne Samovar. Das gilt garantiert auch für ukrainische Häuser.
Das russische Wort für Tee ist „tschaj“, auf Ukrainisch heißt er exakt genauso. Das Wort geht auf die persische Version des chinesischen „tschā“ zurück. Die kam im 16. oder 17. Jahrhundert auch nach Indien. So weit die Worte der deutschsprachigen Wikipedia.

Wer eine Tasse Tschaj, frisch per Samovar zubereitet, genießt, dem ist die Wortherkunft, die Ethymologie, herzlich egal. Süß oder ungesüßt, gerne mit Milch oder Kompott – bloß nicht beide zusammen! – da schlägt mein Polodessiten-Herz höher. Und das liegt nicht am Koffein, sondern an den aufsteigenden Erinnerungen.

Unsere Hauswirtin, die liebe Valentīna Petrōvna, war Diabetikerin. Süßen mit normalem Zucker, Kompott oder Honig ging so eigentlich gar nicht. Dass sie sich ab und zu trotzdem einen süßen Zahn erlaubte, auch wenn sie dann mindestens einen ganzen Tag bitter leiden musste, sei hier angemerkt. Denn: Glücklicherweise schmeckt indischer Gewürztee auch völlig ungesüßt. Milch reicht. Und mit gewissen Mengen an Milch hatte Valentīna Petrōvna keine Probleme.

Sie hatte ein Problem, als sie meinen ersten selbstgemischten Odessaer Yogi-Tee probierte. Der Duft hatte sie neugierig gemacht und natürlich hatte ich ihn ihretwegen nicht gesüßt. So konnte ich unserer Hauswirtin, die Neuem gegenüber immer aufgeschlossen war, sagen, dass die Kostprobe ihr sicher nicht schaden werde.

Ja, ihr Organismus spielte klaglos mit. Aber ihre Gesichtsmuskulatur, tja. Die verzog Valentīna Petrōvna und meinte: „Das ist schrecklicher Tee.“ – Ich glaube, mit dem enthaltenen schwarzen Pfeffer hatte sie einfach nicht gerechnet. Uch Ty!

[Musik: Großvaters Uhr]

Mit dem ersten und unglücklichen Versuch ließ es Valentina Petrovna nicht bewenden. Da müssen bei einer Odessitin von altem Schrot und Korn schon andere Dinge passieren. Sie gab noch etwas mehr Milch dazu und probierte ein zweites Mal. Ein dritter Schluck. Dann fragte sie nach den Zutaten.
Ich nannte sie ihr: Zimt, Gewürznelken, Kardamom, Ingwer und, ja, tatsächlich ein paar schwarze Pfefferkörner. Alles auf dem Privōz erstanden.
Auf dem Privōz kannte sich unsere Hauswirtin selbst hervorragend aus und wusste, dass ich nur bei guten Händlern einkaufte.

Valentina Petrōvna ging kurz von der Küche, wo wir waren, ins Wohnzimmer und holte sich den Fruchtzucker, den ein Freund der Familie aus Deutschland schickte, um der Diabetikerin das nötige Quantum Lebenssüße zukommen zu lassen. Mit Kennerblick dosierte Valentina Petrovna und – a star was born. Ab jetzt wollte unsere Hauswirtin diesen Schrecklichen Tee, den Uzhāssnyj Tschaj, wie sie ihn weiter nannte, jeden Tag. Mit Augenzwinkern und dem unverwechselbaren listigen Lächeln, das ich einmal wiederzusehen hoffe. Da, wo wir zu Tische sind – mit allen, die dafür bereit sind. Und wir werden Tschaj trinken. Abwechslung muss sein.

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